„Umsicht – aber nicht Unsinn“

von Redaktion

Freie Wähler wittern einen Stimmungsumschwung – Das nächste Ventil wird der Breitensport

Abensberg/München – Es wäre der Ort für donnernde Defiliermärsche und ruppige Reden. Aber im fast leeren Saal sitzen nur fünf Blasmusiker, Hubert Aiwanger hält seine Rede in die Kamera, dünner Applaus, jeder Klatscher patscht einzeln. Matt und mühsam – so läuft der politische Gillamoos 2020. Aus der Redeschlacht aller Parteien in benachbarten Zelten ist wegen Corona ein Internet-Dings geworden, an dem sich auch nur CSU und Freie Wähler beteiligen. Und selbst das hakt, weil Aiwangers Übertragung oft zusammenbricht.

Kein Vergleich also mit den kraftstrotzenden Kampfansagen von früher. Trotzdem liegt Würze gerade im Auftritt Aiwangers. Wo er als Parteichef agiert, nicht als Vize-Ministerpräsident, kann er klarer den Corona-Kurs der Koalition kritisieren. Seit Monaten dringen die Freien Wähler auf immer neue Lockerungen, während die CSU dämpft. Das spitzt sich zu: Im Land schrumpft langsam die bisher sehr breite Mehrheit für den strengen Kurs von Ministerpräsident Markus Söder. Gleichzeitig wollen sich die Fraktionen bei den Herbstklausuren profilieren, als erste ab Mittwoch die Freien Wähler, die aus dem Umfragetief raus wollen.

Aiwanger verzichtet auf rhetorische Grobheiten, geht inhaltlich aber bis an die Schmerzgrenze der CSU. „Mir ist wichtig, dass wir jetzt nicht wieder Hals über Kopf in Lockdowns reinmarschieren“, mahnt er. Er fordert stattdessen sogar mehr Zuschauer in Sälen und Konzerthäusern abhängig von der Raumgröße sowie den schnellen Neustart des Amateurfußballs Mitte September. Munter redet Aiwanger zudem über die Eröffnung von Bars und Kneipen. „Wir müssen uns an die rote Linie herantasten“, sagt er – wissend, dass die Infektionsrisiken im Nachtleben Söders dunkelroteste Linie sind.

Einen direkten Konflikt mit der CSU sucht Aiwanger auch auf einem Nebenschauplatz: Er fordert den endgültigen Verzicht auf die dritte Startbahn am Flughafen. „Wir bezweifeln den Bedarf. Jetzt ist es sichtbarer denn je.“ Man dürfe nicht „krampfhaft“ am Ausbau festhalten.

Es rumpelt also in der Koalition. Corona-Konfliktpotenzial ist ja reichlich vorhanden. Die Freien Wähler murren über die Testpannen, die dem CSU-geführten Gesundheitsministerium zugeschrieben werden; umgekehrt mault auch die CSU über die dünnen Digitalisierungs-Konzepte aus dem FW-Schulministerium. Strukturell dringen die Freien Wähler auf eine Corona-Begleit-Kommission. Auch um den Landtag anzutreiben, der sich in der Krise in eine sehr ausführliche Sommerpause verabschiedet hat. Die CSU lehnt das ab.

Ausufernden offenen Koalitionsstreit wollen die Freien Wähler vermeiden, ist hinter den Kulissen zu hören. Sie sehen aber Handlungsbedarf. Am pointiertesten sagt das Fraktionsgeschäftsführer Fabian Mehring: Er warnt aber grundsätzlich davor, die Stimmung und die Kritiker falsch einzuschätzen. „Vor vier Monaten waren es die unter dem Aluhut, die sich über Regierungshandeln beklagt haben. Jetzt sind es oft die mitten im Leben Stehenden, Vereinsvorstände, Aktive – wir müssen da aufpassen.“ Er rät dazu, zügig Details an Verordnungen zu korrigieren, die sich als nicht sinnvoll erweisen. „Umsicht und Vorsicht sind gut. Aber Umsicht darf nicht Unsinn bedeuten.“ Als ein Beispiel rückt Mehring jetzt den Ligabetrieb der (Fußball-)Amateure in den Mittelpunkt.

Zumindest da ist Bewegung drin. Nach Informationen aus Regierungskreisen wird sich das Kabinett heute schon mit Lockerungen für untere Ligen befassen. Man wolle „Perspektiven überlegen“, heißt es. Nebeneffekt für Söder: So käme er den Freien Wählern zuvor, die bei ihrer Klausur ein detailliertes Sport-Konzept beschließen wollen. CHRISTIAN DEUTSCHLÄNDER

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