Lesbos/Athen – Familien mit Kindern, Junge, Alte, Kranke haben ihre Decken am Straßenrand auf dem nackten Asphalt ausgebreitet. Als Kopfkissen dienen Plastiktüten mit dem wenigen, was die Menschen aus Moria retten konnten – oder auch einfach nur die Bordsteinkante. Direkt neben ihren Köpfen stehen Wasserflaschen – sie gehören jetzt zu den wertvollsten Besitztümern. Denn egal wohin die mehr als 12 600 Migranten vor dem verheerenden Feuer geflohen sind, nirgends gibt es fließendes Wasser oder eine Toilette, geschweige denn Zelte oder Wohncontainer.
Geblieben ist vielen Menschen nicht einmal mehr der letzte Funke Hoffnung: Vielfach sind den Flammen auch ihre Papiere zum Opfer gefallen. Schlimmer noch: Ein Gutteil der Container des Europäischen Asyl-Büros (EASO) ist bei dem Großbrand von Moria abgebrannt und damit weitere Papiere, Anträge, Unterlagen zu laufenden Verfahren. Die Bearbeitung der Asylanträge wurde bis auf Weiteres eingestellt.
Mit Masken im Gesicht harren die Migranten nun an Straßenrändern und auf Äckern in der sengenden Mittelmeersonne, aber auch den beißend kühlen Nächten aus. Der Zugang zur Inselhauptstadt Mytilini wird ihnen schon mehrere Kilometer entfernt von der Polizei versperrt – die Einwohner haben Angst vor Corona und davor, dass Tausende ohne Unterkünfte und Verpflegung in die 37 000-Einwohner-Stadt drängen.
Deshalb rotieren andere, beispielsweise die rund 80 Mitarbeiter, die für die Hilfsorganisation International Rescue Committee (IRC) auf der Insel arbeiten. Sie versuchen gemeinsam mit den Behörden, das Unmögliche möglich zu machen: 12 600 Obdachlose aus dem Stand mit Essen, Wasser und Decken zu versorgen. „Wir müssen sicherstellen, dass es genug gibt, dass es mit der Verteilung klappt und dabei die Corona-Abstandsregeln eingehalten werden“, beschreibt IRC-Mitarbeiterin Martha Roussou die Aufgabe.
Die Angst vor einem unkontrollierten Corona-Ausbruch auf der Insel ist groß. Am Dienstag waren 35 Menschen im Camp positiv getestet, seit dem Brand konnten erst acht ausfindig gemacht werden. Athen will nun im Großformat testen – 19 000 Tests seien auf die Insel gebracht worden, sagte Regierungssprecher Stelios Petsas.
Doch auch mit dieser Maßnahme wird es der Regierung kaum gelingen, die Ängste, Sorgen und Kritik der Inselbewohner zu beruhigen und die zunehmenden Aggressionen abzustellen. „Einwohner blockieren die Straße und halten uns davon ab, zu unserer medizinischen Einrichtung und zu jenen zu gelangen, die noch im zerstörten Camp sind!“ tweetete etwa die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen.
Der Brand von Moria hat den Widerstand der Inselbewohner weiter befeuert. Der Staatssender ERT berichtete gestern von mehreren Straßenblockaden durch aufgebrachte Bürger. Selbst weit im Westen der Insel gehen die Menschen auf die Barrikaden, nämlich im Ort Sigri: Dort hat am Donnerstag die Fähre „Blue Star Chios“ angelegt, um rund 1000 besonders gefährdete Migranten aufzunehmen. Bewohner des Ortes errichteten Barrikaden, um die Ankunft der Menschen zu verhindern.
Martha Roussou kann das beinahe verstehen: „Die Situation ist seit fünf Jahren unverändert.“ Bezeichnenderweise wollten Flüchtlinge und Einwohner dasselbe: Dass die Migranten die Insel verlassen. TAKIS TSAFOS