Berlin/München – Es stinkt nach Urin und Verwesung dort, wo Gerd Müller watet. Er läuft durch den Matsch eines afrikanischen Flüchtlingslagers, schwitzend, Fliegen umschwirren sein Hemd. „Wo sollen wir hin“, ruft ein Lagerbewohner verzweifelt. Müller weiß keine Antwort. „Kann man sich etwas Schlimmeres vorstellen? Ich habe nie Schlimmeres gesehen“, sagt der Minister, beidbeinig im Dreck. Wenig später wird er mit genau diesen Schuhen in den Präsidentenpalast laufen, zu einem jener afrikanischen Halbdiktatoren, die die Existenz solcher Verhältnisse leugnen. Müller will Spuren auf dem roten Teppich hinterlassen.
Wer den Minister verstehen will, und das ist nicht so leicht, muss solche Auftritte im Ausland miterleben, in diesem Fall im Südsudan 2014. Daheim wird der CSU-Mann oft nur wahrgenommen als der Typ mit der betroffenen Stimme, der im Radio was anderes verlangt, als seine Partei dann in ihrer Politik vertritt. Tatsächlich ist der 65-Jährige aber ein zutiefst Überzeugter von seiner Mission, die Welt ein Stück gerechter zu machen und das Leid der allerschlimmsten Krisenherde etwas zu lindern. „Eine Ein-Mann-Hilfsorganisation im konservativen Kabinett“, schrieben Journalisten schon. Sicherheitsleute und Diplomaten fürchteten ihn und seine Ausbrüche aus dem Protokoll – er wollte immer dorthin, wo es wehtut; spontan in Flüchtlingslager, zu Verzweifelten, zu Gesprächen mit den Opfern von Massenvergewaltigungen.
Und jetzt hört die Ein-Mann-Organisation auf. Nach Informationen unserer Zeitung hat Müller seine Parteifreunde im schwäbischen Oberallgäu am Freitag und Samstag darüber in Kenntnis gesetzt, dass er 2021 nicht mehr als Bundestagsabgeordneter kandidiert. „Ich möchte jetzt einen Generationenwechsel einleiten“, bestätigt er. Bis zur Wahl noch wolle er Minister bleiben.
Nach dann 27 Jahren im Bundestag, acht Jahren als Minister, vor Ort unumstritten und fast im Rentenalter darf man das einen selbstbestimmten Abgang nennen. Trotzdem gibt es Zweifel, ob bei Müller nicht auch Frust aufgestaut ist. Immer wieder stellte er sich gegen die Parteilinie, vor allem seit 2015. Als es um den zeitweise AfD-nahen Ton ging, um die Flüchtlinge und zuletzt wieder im Ringen um die Abnahme von Migranten aus Lesbos – Müllers Kurs hat sehr viele Unterstützer gerade bei kirchennahen CSU-Wählern, aber selten in seiner eigenen Parteiführung. Im Juli 2018 eskalierte der Streit in einer Parteivorstandssitzung derart, dass der damalige Parteichef Horst Seehofer in Richtung Müller raunzte, einige im Raum seien wohl „zu dumm“. Müller seinerseits soll, so schilderten es Ohrenzeugen, Seehofer getriezt haben, er stufe die CSU „zur Regionalpartei“ ab.
Nein, dumm ist Müller nicht, aber eben auch nie angepasst. Heute sitzen Müller und Seehofer gemeinsam im Bundeskabinett, keine Freunde. Den Entwicklungsminister wurmt erkennbar, dass der Innenminister aktuell den Kurs in Sachen Lesbos prägt. Hinzu kommt die berufliche Ungewissheit: Der neue Parteichef Markus Söder sagt weder Schlechtes noch Gutes über Müller; er wählt sogar einen inzwischen viel sanfteren Ton in jeder Migrationsdebatte. Söder hat aber mehrfach angedeutet, seine Bundesminister lieber heute als morgen auszutauschen. Nur die Fokussierung auf das Corona-Krisenmanagement durchkreuzte diesen Plan. Intern soll Müller sich über diese Unklarheit enttäuscht geäußert haben, berichtet ein schwäbischer Parteifreund.
Die CSU, aktuell stark auf Söders dominante Rolle fixiert, verliert einen Querdenker. Man darf das einreihen in die altersbedingten Abgänge profilierter Figuren wie Alois Glück oder Barbara Stamm. Es wird viele freundliche Worte geben für Müller. Etwa, dass er aus dem früher belächelten Ministerium viel rausholte. Eindrucksvoller ist, was ihm schon politische Gegner hinterherrufen. „Extrem schade“, heißt es aus der SPD, man habe „allerhöchsten Respekt“ vor ihm.