München – Nur einen Monat war Ursula von der Leyen als Kommissionspräsidentin im Amt, da kamen aus China erste Berichte über eine neuartige Lungenkrankheit. Im März mutierte Corona dann zum alles bestimmenden Thema in Europa. Und so begann gestern natürlich auch von der Leyens erste Rede zur „Lage der Union“ mit der Pandemie, den Folgen und den zu ziehenden Konsequenzen. Sie dankte dem medizinischen Personal und betonte, dass Europa in der Gesundheitspolitik enger zusammenarbeiten müsse. Doch schnell war die CDU-Politikerin bei den eigentlichen Themen ihrer Agenda als Kommissionspräsidentin – die sich durch die Pandemie offenbar kaum verändert hat.
Mindestlöhne in allen Mitgliedsländern, Digitalisierung sowie eine vertiefte Fiskal- und Bankenunion waren auch am Mittwoch Forderungen in ihrer auf Deutsch, Englisch und Französisch gehaltenen Rede in Brüssel. Die Krise biete die Chance zur beschleunigten Umsetzung der Agenda. Europa habe zusammengearbeitet wie noch nie. Das sei der Moment, die Welt von Morgen zu gestalten, sagte von der Leyen.
Von den 750 Milliarden Euro aus dem Wiederaufbaufonds fließe mehr als ein Drittel in Maßnahmen des europäischen Green Deals. Der Green Deal ist von der Leyens Plan für einen wirtschaftsverträglichen Weg zur europäischen Klimaneutralität bis 2050. An ihm hält sie ebenso fest wie an der 2019 angekündigten Verschärfung der europäischen Klimaziele 2030. Nicht wie bisher vereinbart um 40 Prozent, sondern sogar um 55 Prozent sollen die Treibhausgas-Emissionen gegenüber 1990 sinken. Das sei ambitioniert, aber leistbar. Die Wirtschaft werde insgesamt profitieren. Für Regionen, in denen die nötige Anpassung aufwendiger sei, gebe es Hilfen.
Künftig soll zudem Wasserstoff, etwa zur Produktion von „grünem“ Stahl, eine gewichtige Rolle spielen, ebenso klimaneutrales Bauen, der Ausbau der Ladeinfrastruktur für E-Autos, eine Überarbeitung des Emissionshandels und eine Reform der Energie-Besteuerung. Dazu passend sollen 30 Prozent des 750-Milliarden-Pakets über die Ausgabe von Öko-Anleihen durch die Kommission finanziert werden.
Die Reaktionen waren auch innerhalb der politischen Lager geteilt. Manfred Weber (CSU), Fraktionschef der Europäischen Volkspartei, begrüßte von der Leyens Kurs, forderte lediglich einen starken Fokus auf Beschäftigung. Der CDU-Europaabgeordnete Dennis Radtke sagte dagegen: „Frau von der Leyen hat eine Flughöhe erreicht, bei der man die Existenzängste von Industriearbeitern, mittelständischen Unternehmern und Landwirten mit bloßem Auge nicht mehr erkennen kann.“
Ska Keller, Fraktionsvorsitzende der Grünen im EU-Parlament, lobte: „Sie haben dem Druck der Lobbygruppen standgehalten.“ Bei der Deutschen Umwelthilfe sprach man von Trickserei, weil bei der Berechnung nun zusätzlich CO2-Senken wie Wälder und Moore einberechnet würden. Auch die Wirtschaft scheint gespalten: Mehr als 150 Konzernchefs hatten das 55-Prozent-Ziel am Dienstag in einem Brief eingefordert – darunter Google, Apple und Deutscher Bank. Industrieverbände sehen dagegen Gefahren für die ohnehin geschwächte Wirtschaft.
Von der Leyen mahnte auch eine Einigung in der europäischen Migrationspolitik an. Moria sei eine schmerzvolle Mahnung. Konkrete Vorschläge für eine Asylreform will die Kommission nächste Woche vorlegen. Die Präsidentin sprach sich aber schon mal für die Seenotrettung aus. „Leben auf dem Meer zu retten ist nicht optional“, sagte sie und mahnte mehr Solidarität mit denjenigen Staaten an, die bei der Aufnahme von Menschen mehr Lasten trügen.