Stockholm – Ist das einst so behütete Wohlfahrtsland Schweden zum wilden Norden geworden? Einiges deutet darauf hin. Im August 2019 wurde in Malmö eine junge Mutter und Ärztin, die mit ihrem Säugling spazieren ging, von Maskierten erschossen. Ein Racheakt? Der Vater des überlebenden Babys ist ein früherer Krimineller. Diesen August wurde bei einer Schießerei zwischen zwei Banden eine Zwölfjährige getötet.
Schweden ist erschüttert, die eskalierende Bandengewalt ist das Thema. In Göteborg, der zweitgrößten Stadt des Landes, ist die Polizei seit Monaten in höchster Alarmbereitschaft. Es gibt Schlägereien, Schießereien, Autos werden angezündet. Banden errichten Straßensperren in ihren Vierteln, so kontrollieren sie, wer da hinein und hinaus fährt. Auch in Stockholm ist es zuletzt immer wieder zu Schießereien zwischen rivalisierenden Banden gekommen, teils mit Toten und Schwerverletzten. Der Drogenmarkt in der Hauptstadt ist hart umkämpft.
In Schweden tobt derzeit eine Diskussion: Es geht um „Parallelgesellschaften“, um die Bandenmitglieder, von denen viele einen Migrationshintergrund haben, um Orte, wo sie nach ihren eigenen Gesetzen leben. Die Debatte befeuert hat eine Äußerung von Mats Löfving, Vizechef der Reichspolizei. „Derzeit haben wir mindestens 40 verwandtschaftsbasierte kriminelle Netzwerke in Schweden, auch Clans genannt“, sagte er. „Die sind nach Schweden gekommen, behaupte ich, einzig und allein mit dem Ziel, Kriminalität zu organisieren und systematisieren.“
Bis auf die de facto rassistischen Rechtspopulisten ist es in Schweden lange ein politisches Tabu gewesen, anzusprechen, dass viele Banden ihre Mitglieder aus Migrantenfamilien rekrutieren. Das ist nun anders. Selbst Schwedens lange einwanderungsfreundlicher sozialdemokratischer Ministerpräsident Stefan Löfven hat offensichtlich seine Haltung geändert.
Erstmals überhaupt hat er die Einwanderung mit sozialen Spannungen und Problemen wie der Bandenkriminalität verknüpft – auch, um Wähler von Rechtsaußen zurückzuholen, wie Beobachter meinen. „Wenn man Migration in der Größenordnung hat, dass man die Integration nicht hinbekommt, haben wir soziale Spannungen“, hat Löfven, Chef einer rot-grünen Regierung, nun gesagt. „Deshalb hat meine Regierung die Migrationspolitik umgelegt. Wir nehmen deutlich weniger auf.“
Sein Innenminister Mikael Damberg sekundiert: „Segregation und Ungleichheit haben dazu geführt, dass bestimmte Wohngebiete vernachlässigt wurden – von mehreren Teilen der Gesellschaft“. Er werde reagieren – mit mehr Polizisten, erweiterten Befugnissen für die Beamten und verschärften Strafen.
Derzeit wird diskutiert, ob verurteilte Personen mit Bandenzugehörigkeit doppelt so hohe Strafen erhalten sollten wie Einzeltäter. Das ist bereits im benachbarten Dänemark der Fall. Ebenfalls in der Diskussion sind Betretungsverbote in bestimmten Zonen für Bandenmitglieder. In diesen soll die Polizei anlasslos Personen kontrollieren und Objekte durchsuchen dürfen.
Einer, der zu Besonnenheit mahnt, ist der Kriminologieprofessor Henrik Tham von der Universität Stockholm. Er nennt es fahrlässig, dass nun Kriminalität und Einwanderung gleichgesetzt werden. Studien zeigten, „dass man nicht den ethnischen Ursprung von Menschen für erhöhte kriminelle Aktivitäten verantwortlich machen kann. Es hat mit dem sozialen Status und dem Ausbildungsgrad zu tun“, betont er. Auch das Bild vom wilden Norden mit immer mehr Kriminalität hält er für falsch: „Schweden ist heute in vielen Bereichen viel, viel sicherer als früher.“
Laut Tham haben die Bandenkonflikte vor allem mit einem Machtvakuum im organisierten Verbrechen zu tun. In ausländischen Städten, in denen es weniger Schießereien gibt, gebe es nicht etwa weniger organisierte Kriminalität, sondern lediglich eine klare Hierarchie.