München – Es ist der Moment, in dem es auf diesem Parteitag mucksmäuschenstill wäre. Markus Söder setzt seine Lesebrille auf und zitiert aus den dreckigsten Beleidigungen, die ihn in diesen Monaten erreichten. „Du stinkende Judensau, Du gehörst vergast“, „Volksmörder und Kinderschänder“, „der Teufel hat von Dir Besitz ergriffen“. Er verliest das, um zu warnen, dass die Debatte um die Corona-Maßnahmen an den Rändern entgleist, dass sich Teile der Kritiker radikalisieren. Und ruft die Bayern auf, als „Koalition der Vernünftigen“, „Bündnis der Umsichtigen“ zusammenzuhalten gegen eine „Corona-Pegida“.
Es ist still in diesem Augenblick, und bleibt es, denn kein Delegierter ist im Raum. Die CSU tagt nur digital, und Söder richtet seine Rede aus dem Parteichef-Büro in München in eine Kamera. Der Digital-Parteitag ist ein Experiment in Pandemie-Zeiten; der Inhalt ist in Wahrheit keines. Söder hält eine rhetorisch starke Rede, erklärt viel, aber mit dem nun seit Wochen bekannten Tenor: Corona ist da, bleibt da, immer gefährlich.
„Ich hab eigentlich keine Lust mehr auf Corona, es nervt, mich auch“, sagt Söder also. Trotzdem warnt er, sich vom Hoffen auf Herdenimmunität oder ein entschärftes Virus verführen zu lassen. „Für mich als Christ ist es ethisch nicht vertretbar, für das Freizeitverhalten Vieler das Leben Weniger zu opfern.“ Es brauche regionale Regeln, teils Verschärfungen für Partys und Sperrzeiten, aber keinen Strategiewechsel. „Woanders laufen die Krankenhäuser wieder voll.“ In der SZ spricht er sich zudem für eine Corona-Warnampel aus, die bundesweit eingeführt werden solle. Der Koalitionspartner Freie Wähler fordert das schon seit Längerem.
Technisch klappt das Digital-Treffen, der erste große Netz-Parteitag in Deutschland, leidlich. Die CSU hat sich in ihrer Zentrale im Münchner Norden ein Video- Studio gebaut. Die Leitung zu den bis zu 800 Delegierten bleibt stabil. Die Einblicke sind anders als sonst. Man sieht nun die Nussholzbücherwand im Arbeitszimmer des Innenministers Herrmann, kann die langweiligen Rechenschaftsberichte aus den Fraktionen und sogar das rituelle Wehklagen des Kassenwarts wegklicken.
Statt Klatschen gibt es den „Gefällt mir“-Knopf. Digitale Buhrufe mag man nicht. Weil der Schalter dafür fehlt, und weil Bundesminister Andreas Scheuer, den das ab und zu treffen könnte, Geburtstag hat. Für zugeschaltete Redner, die nicht sehen können, wenn sich Delegierte langweilen, gibt es ein Zwei-Minuten-Limit. Und notfalls ein digitales Kuhglocken-Signal gegen Dauerredner.
Das klingt lustig, und manche Kleinigkeit lässt schmunzeln. Söders Teetasse etwa, die mit Filmzitaten spielt. „Winter is coming“, zeigt sie, gemeint als Anspielung auf einen schwierigen Corona-Winter. „Winter is here“ steht darauf, sobald heißer Tee eingefüllt ist. Der Winter ist da, die zweite Welle ist da, Tassen-Klamauk im Widerspruch zum Ernst der Lage.
Trotzdem ist der Grundton ernst. Eigentlich hätte eh alles anders sein sollen. Ein Jubel-Treffen zum 75. Geburtstag der Partei, Festakt, rauschender Delegiertenabend, sonstwas. Nun sagt Söder was für die CSU neu ist: „Kein Schulterklopfen, keine Selbstbeweihräucherung, kein Jubel.“ Jenseits von Corona setzt er zwei harte Botschaften: ein Aus für fossile Verbrennermotoren 2035 und ein Verbot der Reichskriegsflagge in Bayern (siehe Bayern-Teil).
Das gilt auch für die Sachdebatte. Die heikleren Anträge werden im Sinn der Parteispitze beschieden. Auch die Vorstöße gegen Gender-Sprache, die im Vorfeld Schlagzeilen gemacht hatten, werden mit stabilen Mehrheiten auf die lange Bank verschoben.
Das Redner-Regime ist straffer als beim „richtigen“ Parteitag 2019. Selbst die allgegenwärtige K-Frage kann die Parteispitze wegblenden. Söder warnt nur davor, dass der Übergang von Merkel auf den nächsten Bewerber sehr schwierig werde und dass nichts ohne die Zustimmung der CSU gehen werde. Zeitplan: erst im Jahr 2021 soll entschieden werden.