„Bewegungen lassen sich nicht mehr eindämmen“

von Redaktion

Sarrazin, Gauweiler, Lafontaine: Drei Veteranen der Flüchtlingsdebatte treffen in München aufeinander

München – Thilo Sarrazin schreibt im Grunde seit zehn Jahren am selben Buch – und landet damit zuverlässig ganz oben auf der Bestseller-Liste. Auch in seiner neuen Variante seines Aufreger-Werks von 2010 „Deutschland schafft sich ab“ kreist der aus der SPD ausgeschlossene Ex-Finanzsenator und Ex-Bundesbanker um seine Grundthese, dass Einwanderung an sich schlecht für die Gesellschaft sei – und wie Migration möglichst verhindert werden kann.

Sarrazins Verlag Langen-Müller lud im Bayerischen Hof zu einem „Salongespräch“ über Sarrazins neues Buch „Der Staat an seinen Grenzen“ mit einem weiteren Ex-Sozi, Oskar Lafontaine, und CSU-Urgestein Peter Gauweiler. Auch wenn sich die drei in der Analyse der Probleme, die Migration mit sich bringt, weitgehend einig waren, entlarvte die Diskussion doch einige Schwachstellen in Sarrazins Übertragung geschichtlicher Erfahrungen auf die Gegenwart: „Der Mensch lebt im Wesentlichen stationär“, behauptet der 75-Jährige – was Gauweiler mit der Bemerkung kontert: „In einer Welt der Flugzeuge lassen sich ganz bestimmte Bewegungen nicht mehr eindämmen. Und wir sind doch alle froh, dass unsere Enkel ihre Praktika in Neuseeland oder Australien ableisten können.“

Die Diskussion vor geladenen Gästen (unter anderem Focus-Gründer Helmut Markwort) kreiste vor allem um die Frage, ob der reiche Westen eine Mitverantwortung für die Flucht aus Afrika oder anderen Regionen hat. Sarrazin streitet das ab. Der Grund für die Flucht sei, dass ein „vormodernes Lebensmodell“ auf die Segnungen der westlichen Moderne treffe. Dem widersprach Gauweiler entschieden: Mit ihrer Intervention etwa in Afghanistan hätten „westliche Politiker Fluchtursachen nicht bekämpft, sondern geschaffen“. Und der Ex-Linkenchef Lafontaine beklagte den Neokolonialismus des Westens und schlug polemisch vor: „Schickt Dampfer mit Flüchtlingen in die USA – die sind doch die Hauptverantwortlichen für die Migration!“

Spannend zu beobachten, wie unterschiedlich sich konservative Politiker entwickeln können, die sich seit Jahrzehnten am Thema Migration abarbeiten: Gauweiler erklärte, er sei in der Frage „altersmilde“ geworden und genervt davon, dass die Flüchtlingsdebatte seit den 70ern vom „starken Willen zum Vorurteil“ bestimmt sei. Deshalb bemüht sich Gauweiler, das Thema pragmatisch und nicht mehr ideologisch anzugehen – und kommt zu dem Urteil: „Lasst die, die hierhergekommen sind, arbeiten! Mir wird schlecht, wenn Gesundheitsminister Spahn nach Mexiko fährt, um 500 Pflegekräfte zu finden, während 2000 Geeignete in unseren Asylheimen zum Nichtstun verdammt sind.“

Ganz anders Sarrazin, der hinter all seinen Daten und Statistiken immer weniger in der Lage scheint, die individuellen Schicksale zu sehen. Die Zahlen verstellen ihm auch den Blick auf Zusammenhänge. So schließt Sarrazin aus der Tatsache, dass nur 2 Prozent der deutschen Exporte nach Afrika gehen: „Afrika spielt für ein Land wie Deutschland wirtschaftlich keine Rolle.“ Lafontaine muss ihn daran erinnern, dass kein Handy ohne Coltan aus Afrikas Minen laufen würde. Sarrazin findet: „Ganz egal, was in Afrika passiert – wir dürfen nicht zulassen, dass deren Probleme auf unseren Rücken gelöst werden.“ Gauweiler konterte: „Da ist eine sittliche Verantwortung da“ – und räumte sogar ein, dass Seenot-Retterin Carola Rackete ihm imponiert habe „mit ihrer flammenden Anklage“.

Und der Zuhörer denkt sich: Eigentlich müsste Rackete mit Sarrazin diskutieren – der Mann, der völlig unemotional nur auf Zahlen blickt, contra der Frau, für die nur die Einzelschicksale zählen. Sie könnten sicher beide voneinander lernen.

KLAUS RIMPEL

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