Die Infektionszahlen steigen schon wieder – und die kalten Monate kommen erst noch. Der Virologe Hendrik Streeck sagt: Im Sommer wurden Chancen ausgelassen, um Lösungen für Herbst und Winter zu finden. Streeck ist Direktor des Instituts für Virologie am Universitätsklinikum Bonn.
Corona verläuft bei Jüngeren zumeist mild. Steigt das Risiko, dass immer mehr Leute bei Symptomen gar nicht zum Arzt gehen – weil sie keine Lust auf Quarantäne haben?
Vorstellbar. Ich setze aber darauf, dass die Leute Verantwortung übernehmen, nicht nur für sich selbst, sondern auch für andere Menschen. Fast jeder von uns kennt ältere Menschen oder Menschen aus Risikogruppen, für die eine Infektion gefährlich werden kann. So eine Pandemie kann man nur gemeinsam bewältigen.
Die Zahl der Sterbefälle hat nicht deutlich zugenommen, die Infektionszahlen aber schon. Liegt das auch daran, dass sich vor allem Junge infizieren?
Es ist vielschichtiger. Ja, es waren zuletzt die Jüngeren, die sich infizierten. Hinzu kommt aber, dass wir generell kaum schwere virale Lungenentzündungen im Sommer sehen – das gilt für alle viralen Erkrankungen. Es ist ein Phänomen, das wir kennen, ohne dass wir schon den Mechanismus dahinter verstehen. Dritter Punkt: Wir wissen zum Beispiel für die Grippe, dass eine Reduktion der Infektionsdosis mildere Symptome verursacht. Und dafür sorgen wir mit Verhaltensweisen wie Abstand und dem Tragen einer Maske.
Sie plädieren dafür, sich bei der Lage-Einschätzung nicht nur auf die Infektionszahlen zu beziehen.
Ja. Eine asymptomatische Infektion ist ja zunächst nichts Schlimmes. Die Person kann sich danach vermutlich erst mal nicht mehr infizieren und auch nicht mehr zum Infektionsgeschehen beitragen. Zudem ist es nicht auszuschließen, Langzeitfolgen zu haben. Daher finde ich es wichtig, dass wir nicht nur auf die reinen Infektionszahlen schauen. Wir dürfen sie natürlich nicht außer Acht lassen. Aber wichtiger ist, dass wir aus den Daten lernen. Die Auslastung in der stationären Behandlung und der Anteil der belegten Intensivbetten müssen meines Erachtens nach im Verhältnis mit eingerechnet werden. Anhand dieser Daten müssen wir die Schwellenwerte definieren, ab denen Maßnahmen strikter werden.
Glauben Sie, dass Deutschland gut auf den Herbst und Winter vorbereitet ist mit seinem Gesundheitssystem?
Ich glaube, im Gesundheitssystem sind wir sehr gut vorbereitet. Mental sind wir dagegen in Deutschland weniger gut vorbereitet, so empfinde ich es zumindest. Es gibt zu viel Angst. Und wir haben es über den Sommer hinweg nicht geschafft, pragmatische Lösungen zu finden, wie man in bestimmten Bereichen weitermachen kann, wenn die Infektionszahlen deutlich steigen. Da wurden Chancen ausgelassen. Meine Sorge für den Herbst ist, dass wir zu wenig über Lösungen diskutieren und zu viel darüber, wie wir das Leben wieder zurückfahren.
Interview: Jonas-Erik Schmidt