Merkel wird emotional

von Redaktion

VON HAGEN STRAUSS

Berlin – Die letzten zehn Minuten ihrer Rede sind diesmal die entscheidenden. Angela Merkel leitet sie bei der Generaldebatte im Bundestag mit den Worten ein, sie könne jetzt nicht nach der üblichen Routine verfahren, „wenn die Zeit der Pandemie keine Routine kennt“. Es wird still im Hohen Haus. Alle, auch die Zwischenrufer aus der AfD, spüren, dass jetzt etwas folgen wird, was Seltenheitswert hat.

Angela Merkel wendet sich an die Abgeordneten und die Bürger: „Wir müssen miteinander reden. Denn die Infektionszahlen steigen“, sagt sie. Ungewöhnlich eindringlich wird die Kanzlerin, fast fürsorglich spricht Merkel. Im Plenum, auch auf der Regierungsbank, werden die Tablets und Handys beiseitegelegt. Seit Tagen treibt Merkel um, wie dramatisch sich die Corona-Situation bald verschärfen könnte. Deswegen die Maßnahmen, die sie tags zuvor mit den Ministerpräsidenten auf den Weg gebracht hat. Vor über 19 000 Infektionen täglich hat sie zudem gewarnt. Die Physikerin der Macht, die alles so pragmatisch und nüchtern anpackt, springt im Bundestag über ihren Schatten – wer so besorgt ist, muss irgendwie an Herz und Verstand appellieren. Nicht einfach für Merkel.

Alle Regeln und Maßnahmen nützten „wenig bis nichts, wenn sie nicht von den Menschen angenommen und eingehalten werden. Und deshalb: Wir müssen reden.“ Die Kanzlerin zählt auf: Im Familien- und Freundeskreis, mit Kollegen, in Schulen und Kitas, in Pflegeheimen, der Nachbarschaft und im Fußballverein. „Wir müssen reden, erklären, wir müssen vermitteln.“ An öffentlichen Orten, im Parlament, in den Kommunen in den sozialen Medien „mit Worten, die möglichst viele erreichen“. Sie spüre selbst, wie sie sich nach Unbeschwertheit sehne. Aber: „Wir riskieren gerade alles, was wir in den letzten Monaten erarbeitet haben.“ Man dürfe nicht nochmal zulassen, dass ein Mensch „mutterseelenallein sterben muss, weil seine Liebsten Abstand zu ihm halten müssen“. Bis auf die AfD applaudieren an dieser Stelle alle.

Sie wolle alles dafür tun, einen erneuten Shutdown zu verhindern, sagt Merkel. Deshalb ihr Appell: „Halten Sie sich an die Regeln, geben wir alle wieder mehr aufeinander acht.“ Sie verspricht: „Das Leben, wie wir es kannten, wird zurückkehren.“ Für die Kanzlerin ist es auch ein persönlicher Kampf gegen die Zeit. Es dürfte ihre letzte Rede bei einer Generaldebatte sein. 2021 hört sie auf.

Dass sie mit ihrem Krisenmanagement richtig liegt, sieht im Bundestag freilich nicht jeder so. AfD-Fraktionschefin Alice Weidel versucht es gleich mit einem Rundumschlag gegen alle Minister. Höhepunkt ist Weidels Aufforderung an Wirtschaftsminister Peter Altmaier, die Ludwig-Erhard-Büste in seinem Büro gegen eine von Karl Marx zu ersetzen. Altmaier rückt seine Brille zurecht und lacht amüsiert. Weidel zeichnet das Bild eines Landes, dem der Absturz droht. „Mit den Fehlleistungen dieser Regierung könnte man eine ganze Bibliothek füllen“, ruft sie. Angriff scheint hier die beste Ablenkung, denn die AfD kämpft gerade mit dem Skandal um ihren Ex-Strategen und Sprecher Christian Lüth. Migranten könne man erschießen oder vergasen, hatte er in einem belauschten Gespräch gesagt.

FDP-Chef Christian Lindner wirkt dagegen überrascht, er lobt Merkel, sie habe angemessene Worte gefunden. Es fehlten aber immer noch konkrete Maßnahmen wie eine nationale Teststrategie. Vor einem „Kürzungshammer“ bei den Sozialleistungen warnt Links-Fraktionschef Dietmar Bartsch. Und der Grüne Anton Hofreiter fordert mehr Weitsicht von der Kanzlerin.

Besonders bemerkenswert ist der Beitrag von SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich. Er kann der Versuchung nicht widerstehen, eine Wahlkampfrede zu halten – ähnlich wie schon am Tag vorher Finanzminister und Kanzlerkandidat Olaf Scholz. Mützenich lobt, dass die Koalition einen Haushalt „mit Kraft und Ausdauer“ vorgelegt habe. Doch dann ruft er: „Olaf Scholz ist der richtige Kanzler für Deutschland!“ Auf der Regierungsbank setzt Scholz ein Lächeln auf, das eher aussieht wie unangenehm berührt. Angela Merkel sitzt nur drei Plätze neben ihm.

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