Neustadt/Sonneberg – Das Ortsschild an der Gebrannten Brücke, dem ehemaligen Grenzübergang, nutzen sie gemeinsam. Auf der einen Seite steht der Ortsname von Neustadt bei Coburg. „Große Kreisstadt“ nennt sich die 15 000-Einwohner-Kommune nicht ohne Stolz. Auf der anderen Seite desselben gelben Metallschildes steht der Name von Sonneberg. Mit 22 000 Einwohnern ist der Thüringer Nachbar größer, historisch war er bedeutender, „Weltspielzeugstadt“ trägt Sonneberg als Beinamen, auch wenn die Spielzeugindustrie beide Städte seit Jahrhunderten prägt.
Neustadt und Sonneberg haben viele Jahre gemeinsame Sache gemacht – fast so, als wären sie eins. Dann kamen der Zweite Weltkrieg und die deutsche Teilung. Ein Grenzzaun sollte fortan die Nachbarn trennen – gemeinsames Wirtschaften, gemeinsames Freizeitverhalten war für 40 Jahre tabu. Und heute?
Heute erinnert an der Gebrannten Brücke kaum noch etwas an diese Zeit. Ein Anwohner sichert sein Anwesen noch mit einem alten Stück des DDR-Grenzzaunes. Ansonsten dominieren Konsumtempel westlicher Prägung das Bild in dem zum Gewerbegebiet umfunktionierten Grenzstreifen. Lediglich eine braune Metalltafel weist darauf hin, dass an diesem Fleckchen Geschichte geschrieben wurde: „Hier waren Deutschland und Europa bis zum 12. November 1989 um 8 Uhr geteilt.“
Frank Rebhan war damals gerade 30 Jahre alt geworden. Heute ist Rebhan 60 und seit 25 Jahren Oberbürgermeister von Neustadt. Die Jahre seit der Wiedervereinigung hat der Politiker zu großen Teilen an vorderster Front verbracht. Zu dem, was in den vergangenen drei Jahrzehnten passiert ist, hat der SPD-Mann eine glasklare Meinung. „Die Deutsche Einheit ist ein Segen für Deutschland und auch für meine Stadt.“
Die Grenzregion in den nordbayerischen Regierungsbezirken Oberfranken und Unterfranken, einst als „Zonenrandgebiet“ ganz an den äußersten Rand des politischen Westens gedrängt, hat ähnlich wie ihre thüringischen und sächsischen Nachbarn massiv vom Fall des Eisernen Vorhangs profitiert – auch wenn es zunächst nicht so aussah. Der Freude über die Öffnung der Grenze folgte schnell die Ernüchterung.
Der Gestank der Zweitakt-Motoren von Trabant und Wartburg, überfüllte Innenstädte und Supermärkte und nicht zuletzt die Angst vor der Billig-Konkurrenz aus dem Osten im Wettbewerb um die damals knappen Arbeitsplätze – schnell war der Spruch vom „Jammer-Ossi“ auf der einen und vom „Besser-Wessi“ auf der anderen Seite geprägt. Die „Mauer in den Köpfen“ schien wieder zu wachsen – auch dank einiger Kardinalfehler in der deutschen und internationalen Politik, wie Rebhan heute glaubt.
„Es gab Verwerfungen, teilweise politisch gemacht“, sagt der Oberbürgermeister. „Es gab eine scharfe Fördergrenze, was dazu führte, dass die Regionen in Grenznähe in den alten Bundesländern erhebliche Probleme bekommen haben“, umschreibt Rebhan. Im Klartext: Unternehmen folgten dem Ruf des Fördergeldes und investierten im Osten. Auch aus Neustadt zog es Firmen in die thüringische Nachbarschaft.
Die Fördersätze sind inzwischen stärker angeglichen – und mit ihnen vieles andere. Neustadt und Sonneberg haben ein gemeinsames Busnetz, ein Internationales Puppenfestival richteten die Nachbar-, Partner- und Spielzeugstädte gemeinsam aus. Für den Tag der Franken im letzten Jahr waren beide Städte gemeinsam Gastgeber.
Auch die Pendlerströme sind inzwischen ausgeglichener. In den Jahren nach der Wende war der Arbeitsamtsbezirk Coburg, wo Neustadt liegt, derjenige mit der größten Zahl an Einpendlern aus Thüringen. Bis zu 30 000 Südthüringer machten sich täglich auf den Weg zu ihren nordbayerischen Arbeitsplätzen. Heute sind es noch ungefähr 10 000. Für viele Neustadter ist es völlig normal geworden, in Sonneberg zur Arbeit zu gehen oder einzukaufen – oder andersherum.
„Die Wiedervereinigung war ein großer Gewinn für die Menschen, aber auch für unseren Coburger Wirtschaftsraum, weil wir schlagartig aus der Position des Zonenrandgebietes in die Mitte Europas gelangt sind“, sagt Friedrich Herdan, Präsident der Industrie- und Handelskammer zu Coburg.
Die Arbeitslosigkeit in den Südthüringer Landkreisen Hildburghausen und Sonneberg ist trotz Corona mit deutlich unter fünf Prozent so gering wie selten. Dass sie im nahen Arbeitsamtsbezirk Coburg mit 3,7 Prozent noch günstiger liegt, zeigt, dass Bürgermeister Rebhan Recht hat: Die Deutsche Einheit war ein Gewinn – für Thüringen und auch für Bayern.