Anja Vogler-Matauschek, 48, ist Sozialpädagogin. Sie arbeitet an der Fachoberschule in Holzkirchen. Sie lebt seit 1998 in Oberbayern und sie hat drei Söhne. Geboren wurde sie im Erzgebirge. Thomas Steinhardt, 47, ist Redakteur beim Fürstenfeldbrucker Tagblatt. Er ist ledig, war mal Ministrant und ist in Merching, einem kleinen Ort im Landkreis Aichach-Friedberg, aufgewachsen. Sie sind fast gleich alt, doch in ihrer Jugend trennten sie buchstäblich Welten.
Was ist das Erste, das Ihnen einfällt, wenn Sie an Ihre Kindheit denken?
Thomas Steinhardt: Fußball. Ich habe jede freie Sekunde am Sportplatz des TSV Merching verbracht. Und das seit ich laufen konnte.
Anja Vogler-Matauschek: Bei uns wurde der Sport sehr gefördert, aber nur die olympischen Disziplinen. Dort, wo man außenpolitisch punkten konnte. Ich wurde mal fürs Langlaufen gesichtet, aber dazu hätte ich in eine Kinder- und Jugendsportschule ziehen müssen. Weit weg von den Eltern. Mein Vater und meine Mutter wollten das nicht. Ich war erst 10.
Sonst wäre vielleicht eine Olympia-Hoffnung aus ihnen geworden?
Vogler-Matauschek: Vielleicht (lacht). Später habe ich Akrobatik gemacht. Reinen Sport gab es bei uns nie. Bei den Sportfesten gab es immer Parolen. „Für unsere sozialistische Heimat“, „für den Frieden“. Eine andere Parole war: „Dein Arbeitsplatz ist dein Kampfplatz für den Frieden.“ Witzigerweise sagen das heute meine Kinder zu mir, wenn ich mich beschwere, dass ich die Küche aufräumen muss.
Hatten Sie ein Lieblingsbuch?
Steinhardt: Ich habe Karl May verschlungen. Wenn ich nicht gerade auf dem Sportplatz war, habe ich eigentlich immer gelesen.
Vogler-Matauschek: Ich ging zum Sport und zum Gitarren-Unterricht. Meine Eltern hatten einen Trabi, aber es gab keine Kultur des Kinder-in-der-Gegend-Rumfahrens. Es gab bei uns in Zinnwald ein super ausgebautes Busnetz. Hinfahren, Training, heimfahren, das hat so viel Zeit verschlungen, dass ich nicht zum Lesen gekommen bin.
Hatten Sie Zugang zu Westprodukten?
Vogler-Matauschek: Wir hatten keine Westverwandtschaft. Das war ein Nachteil. In der Schule sind dann plötzlich Freunde mit Nike-Schuhen und Levi’s-Jeans aufgetaucht. Das war nicht erlaubt, also hat man die Logos abgemacht. Trotzdem hat jeder gesehen, dass es aus dem Westen war. In den heiß geliebten, gelben Westpaketen meiner Mitschüler waren auch Stabilo-Stifte und Tintenkiller – für mich unerreichbar.
Dafür gab es ein reges Tauschleben.
Vogler-Matauschek: Mein Vater war Heilsportlehrer, heute würde man sagen Physiotherapeut. Nebenbei hat er in dritter Generation ein Sägewerk betrieben. Nach der Arbeit hat er Holz geschnitten. Das war sein Tauschprodukt. Die Einheimischen kamen zu ihm, um Holz für ihre Hasen-ställe zu bekommen. Bei uns gab es keine Baumärkte wie bei euch in Bayern.
So verschieden waren Ost und West in dieser Hinsicht nicht. Auch in Merching wurde getauscht, oder?
Steinhardt: Wir hatten einen Apfelbaum und der Nachbar einen Pflaumenbaum, also haben wir getauscht. So macht man das auf dem Dorf. Haselnüsse waren ein beliebtes Tauschgut in Merching.
Vogler-Matauschek: Bei uns hat man das weniger aus Freundschaft zum Nachbarn gemacht. Der Tauschhandel war unsere Parallelwirtschaft zur Mangelwirtschaft. Dadurch sind wir auch zu der einen oder anderen D-Mark gekommen. Einmal im Jahr sind wir damit zum Intershop nach Dresden gefahren. Dort gab es West-Produkte. Die Mama hat Kosmetik bekommen, Creme 21. Der Papa hat sich ein T-Shirt gekauft und ich habe immer eine Stange Mamba bekommen. Mamba war für uns der Himmel.
Steinhardt: Gab es bei euch immer diese große Sehnsucht nach dem Westen?
Vogler-Matauschek: Ja. Aber als Kind gar nicht so sehr nach der Freiheit. Sondern nach den Produkten.
Steinhardt: War bei uns im Westen alles besser?
Vogler-Matauschek: Die Produkte schon. Unsere Filzstifte waren nach kurzer Zeit ausgetrocknet. Kaugummis gab es bei uns, aber die waren knochenhart. Wenn wir mal einen Wrigley’s Spearmint geschenkt bekommen haben, dann war das eine Geschmacksexplosion.
Steinhardt: Das war uns bewusst, dass man sich im Osten über West-Pakete freut. Wir haben fast schon mit einem mitleidigen Blick zu euch geschaut. Nach dem Motto: „Das ist nicht fair, was da passiert.“ Auf die Idee, dass sich da was ändern könnte, ist kein Mensch gekommen.
Vogler-Matauschek: Das war bei uns genauso. Ich habe meine Mutter mal nach der Wiedervereinigung gefragt, das war 1987. Da hat sie mich ausgelacht und gesagt: „Das bleibt immer so.“
Sind Sie angeeckt?
Vogler-Matauschek: Wir hatten Staatsbürgerkunde in der Schule. Einmal hat die Lehrerin einen Film über die städtebaulichen Errungenschaften des Sozialismus gezeigt. Wir wussten, dass die Straßen kaputt waren. „Loch an Loch und hält doch“, das war eine Straße in der DDR. Wir haben gekichert. Kurz darauf kam die Direktorin. Es gab Ärger. Da habe ich erstmals gedacht: „Warum können wir unsere Meinung nicht frei sagen?“
Steinhardt: Anecken konnte man bei uns im Gymnasium schon auch. Ich habe mit Mitschülern die Schülerzeitung gemacht. Einmal durften wir sie nicht auf dem Schulgelände verkaufen, weil wir uns in einem Artikel darüber beschwert haben, dass man in der Aula nicht mehr sitzen durfte. Der neue Direktor hatte das Sitzen verboten. Das war für die Schülerzeitung der Aufreger des Jahres. Ärger haben wir aber nie bekommen.
Vogler-Matauschek: Das war bei uns anders. Meine Eltern haben oft gesagt: „Anja, halt deine Klappe. Du musst nicht immer sagen, was du denkst. Sonst ist dein Ausbildungsplatz weg.“
Haben Sie heimlich West-Fernsehen geschaut?
Vogler-Matauschek: Erst spät. Lange hatten wir gar keinen Empfang. 1988 haben ein paar Einheimische Kabel gelegt. So konnten wir West-Fernsehen empfangen, aber ganz schlecht. Ich habe „Lucky Luke“ angeschaut, das fand ich toll. Und mit diesem Kabel konnten wir dann auch Bayern 3 mit Thomas Gottschalk hören. Ich habe schon früh Staumeldungen aus Oberbayern gehört. (lacht). Damals dachte ich: „Boah, da drüben gibt es so viele Autos, dass es sich andauernd staut.“ Bei uns war noch nicht mal auf der Autobahn was los. Steinhardt: Die Hitparade von Gottschalk habe ich freitagabends auch gehört und auf Kassette aufgenommen. Vogler-Matauschek: Das haben wir auch gemacht. Dann sind wir bestimmt zur selben Zeit vor Gottschalk gesessen und haben mitgeschnitten.
Wo ging die erste Urlaubsreise hin?
Steinhardt: Südtirol. Aber ich war unmöglich als Kind, weil ich nie von daheim wegwollte, obwohl wir überall hin konnten. Meine erste Frage im Urlaubsort war: „Wann fahren wir wieder heim?“
Vogler-Matauschek: Beeindruckend war die Reise an den Balaton, 1979. Da gab es die erste Wasserrutsche. Und Pfirsiche. Und grüne Zuckerwatte. Damals habe ich gedacht: „Ungarn ist das Höchste, das man erreichen kann.“
Wann haben Sie zum ersten Mal gespürt, dass es zur Wiedervereinigung kommen könnte?
Vogler-Matauschek: Nach dieser Ungarn-Reise waren meine Schwester und ich wie verzaubert. Wir wollten jedes Jahr hinfahren, aber wir waren erst im Sommer 1989 wieder am Balaton. Dort haben wir einen bayerischen Pfarrer getroffen, der uns gefragt hat, ob wir jetzt auch in den Westen abhauen. Das haben viele Ostdeutsche im August 1989 gemacht, über Ungarn nach Österreich und weiter in die BRD. Die Grenzen waren ja schon offen. Aber wir sind brav wieder heimgefahren, meine Eltern waren heimatverbunden. An der Grenze haben die ungarischen Grenzer ins Auto geschaut und gefragt: „Wollen Sie wirklich zurück?“ Wir waren fast das einzige Auto, das Richtung DDR gefahren ist. Trotzdem habe ich gemerkt: Da kommt etwas ins Rollen.
Wo waren Sie 1989 am Tag des Mauerfalls?
Vogler-Matauschek: Ich war zusammen mit meinen Eltern in Berlin, wir hatten zufällig Karten für das Gorki-Theater. Ich war damals 17. Es war mein erster Ausflug in den Westen und am eindrucksvollsten waren für mich die Juweliere mit Schaufenstern voller Prunk und Gold. Dann sind wir zur Dresdner Bank und haben unser Begrüßungsgeld abgeholt. Am Rückweg sind wir an einem riesigen Lkw vorbeigekommen, wo Männer „Jacobs Kaffee“ in die Menge geworfen haben. Irgendwann hat einer gerufen: „Der Kaffee ist alle, aber ich habe noch Tüten.“ Die Menschen haben die Arme hochgerissen und gerufen: „Jaaaa, Tüten!“ Mein Vater hat gesagt: „Das ist beschämend. Wir gehen auf die andere Straßenseite.“ Er fand das peinlich, wie ausgehungert die DDR-Bürger nach jedem Konsumgut waren.
Steinhardt: Ich saß mit Freunden völlig baff vorm Fernseher. Wir haben gefeiert. Wir haben es als unglaubliches, historisches Ereignis wahrgenommen. Wir haben wahnsinnig viel diskutiert in den nächsten Tagen. Wie geht das jetzt weiter? Muss das Begrüßungsgeld sein? (lacht)
30 Jahre Einheit. Was ist ihre Bilanz?
Vogler-Matauschek: Ich bin jetzt schon lange in Bayern und habe durchweg gute Erfahrungen gemacht. Ost und West sind noch nicht ganz zusammengewachsen, aber auf einem guten Weg.
Interview: Stefan Sessler