München – Lothar Wieler ist ein Mann der Wissenschaft. Seine Sprache kann sehr akademisch klingen, im Kern aber sind seine Botschaften eindringlich und klar. Bei seinem gestrigen Auftritt in der Bundespressekonferenz verweist der Präsident des Robert-Koch-Instituts einmal auf ein „typisches Präventionsparadox“. Das klingt komplizierter, als es ist. Die Maßnahmen, die die Bundesregierung bisher zur Bekämpfung des Coronavirus verfügt hat, haben so gut gewirkt, dass sich in Teilen der Gesellschaft das Gefühl einschlich, das Risiko sei leicht beherrschbar. Wohin eine solche Fehleinschätzung führen kann, darum geht es an diesem Vormittag.
Der Termin stand schon länger fest, doch an diesem Tag erfährt er kurzfristig noch zusätzliche Brisanz. Am frühen Morgen werden die neuen Infektionszahlen bekannt, 4058 Menschen haben sich in 24 Stunden angesteckt. Das ist nicht nur der höchste Tageswert seit der ersten Aprilwoche. Er bedeutet auch einen Anstieg von mehr als 43 Prozent gegenüber dem Vortag, als – ebenfalls schon wieder sehr hohe – 2828 Fälle notiert wurden.
Als Angela Merkel Ende September von der Möglichkeit sprach, dass die Zahl der täglichen Neuinfektionen bis Weihnachten auf 19 200 steigen könne, klang das wie eine bewusst skeptisch formulierte Einschätzung, um die Sinne zu schärfen. Unter dem Eindruck der neuesten Zahlen wird das Szenario konkreter. RKI-Chef Wieler hält es bereits mit Blick auf die nächsten Wochen nicht für ausgeschlossen, „dass wir mehr als 10 000 neue Fälle sehen und dass sich das Virus unkontrolliert verbreitet“. Das Infektionsgeschehen nehme zu, „und das macht mir Sorgen. Große Sorgen.“
Weder Wieler noch Bundesgesundheitsminister Jens Spahn wollen dem Land Angst einjagen. Spahn nennt Deutschland mit Blick auf ungleich härter von der Pandemie getroffene Länder einen „Fels in der Brandung“ und versichert an einer Stelle: „Wir können durchaus zuversichtlich sein.“
Zum Nulltarif ist diese Zuversicht aber nicht zu haben. Wenn bei den Menschen die Motivation nachlässt, „weil sie Partys feiern, reisen wollen und sich für unverletzlich halten“, und wenn das Virus verstärkt wieder Ältere befällt, droht ein langer, harter Winter, fürchtet Spahn: „Wir wollen nicht an einen Punkt kommen, an dem wir die Kontrolle verlieren.“ Aktuell benötigen bundesweit lediglich 470 Corona-Patienten ein Intensivbett. Die Kliniken fürchten jedoch, dass die Zahl in den kommenden Wochen deutlich ansteigen wird.
Der Gesundheitsminister nennt die Pandemie einen „Charaktertest“. Wenn Politiker an den Charakter appellieren, ist die Lage erfahrungsgemäß ernst. Schon Mitte März, als die erste große Maßnahmen-Welle anrollte, griff in Bayern Markus Söder zu diesem Vergleich, um die Bürger auf das gemeinsame Ziel einzuschwören.
Knapp sieben Monate später sind die Deutschen um etliche Erfahrungen reicher. Beim Einkaufen oder Haareschneiden hat sich das Risiko als überschaubar erwiesen, auch in Schulen habe man die Lage relativ gut im Griff, findet Spahn. Heikel werde es da, wo die Disziplin leidet und Feierwut sich Bahn bricht. Mit Blick auf die Hauptstadt und ihr Nachtleben beklagt er „sorgloses, ignorantes Verhalten“.
Für heute Mittag lädt Angela Merkel die Oberbürgermeister der elf größten deutschen Städte zu einer Schaltkonferenz. Ballungsräume haben sich zuletzt als besonders anfällig für die Verbreitung des Virus erwiesen. „Die Pandemie wird in den Metropolen entschieden“, sagt Hamburgs Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD). Bei dem Gespräch dürfte es um die ganze Palette denkbarer Maßnahmen gehen, von Alkoholverbot bis Maskenpflicht auf öffentlichen Plätzen.
RKI-Chef Lothar Wieler setzt hingegen bei der Frage, wie man dem Virus beikommt, sehr viel grundsätzlicher an. Die AHA-Formel (Abstand, Hygiene, Atemschutz) erweitert er für die kommenden Monate um den Buchstaben L – für Lüften. Und, so warnt Wieler: „Versuchen Sie, die drei G zu vermeiden!“ Geschlossene Räume, Gedränge, Gespräche in engem Kontakt.
Es werden noch lange Monate werden. Erst für Mitte kommenden Jahres erwartet Bundesforschungsministerin Anja Karliczek (CDU) einen flächendeckend verfügbaren Corona-Impfstoff. Sie gehe davon aus, dass dann „breite Teile der Bevölkerung geimpft werden können“. Auch die Ministerin kann ihre Ungeduld aber nicht ganz verbergen: „Sollte es schneller gehen, wäre es natürlich toll.“