Berchtesgaden – Corona-Angst am Fuße des Watzmanns: Im Kampf gegen die extrem gestiegenen Infektionszahlen im Berchtesgadener Land haben der Landrat und die Staatsregierung zu drastischen Maßnahmen gegriffen. Ein Lockdown, in seiner Härte vergleichbar mit den Maßnahmen vom Frühjahr, soll das öffentliche Leben praktisch lahm legen. Alle Schulen schließen, die Hotels machen für Touristen dicht, Restaurants dürfen keine Gäste mehr bewirten: Man müsse „die Daumenschrauben anziehen“, sagt ein spürbar verunsicherter Landrat Bernhard Kern am Abend.
Binnen weniger Stunden war der Landkreis ganz im Südosten in den Fokus der gesamten Republik gerückt. Die Sieben-Tage-Inzidenz auf 100 000 Bewohner sprang auf 252 – das ist ein dramatischer, noch nicht mal in den wildesten Berliner Partyvierteln erreichter Wert. Zwei Patienten sind auf der Intensivstation. Den ganzen Tag über gab es Krisensitzungen im Landratsamt und Schaltungen zu den Spitzen der Staatsregierung. „Eine traurige Situation“, es habe sich alles „extrem verschlimmert“, sagt Bayerns Landwirtschaftsministerin Michaela Kaniber (CSU), die im Landkreis lebt. „Wir müssen alles daran setzen, das Infektionsgeschehen zu unterbrechen.“ Es brauche nun den „großen Schuss vor den Bug“.
Woher die Infektionen im Alpenidyll kommen, ist den Verantwortlichen vor Ort nicht klar – sie haben komplett die Kontrolle über die Infektionsketten verloren. Mehrere Stränge dürften es sein; die Grenznähe zu Österreich, mehrere private Feiern, eine besonders schlimme in der Gemeinde Anger, teils auch verbotene Treffen in Shisha-Bars wie in Freilassing. Die Lage ist aber anders als in Metropolen – der Landkreis ist ländlich strukturiert, mit einer Bevölkerungsdichte von 126 pro Quadratkilometer vergleichsweise dünn besiedelt. „Diffus“ sei alles, sagt der Landrat. Die Bevölkerung habe auf seine Warnungen nicht gehört, macht er deutlich.
Erlebt Berchtesgaden nun, was anderen Hotspots noch bevorsteht? Auch deshalb wird nun auf die Detailregeln im Landkreis geschaut, auf den ersten Lockdown in der Republik seit Monaten. Dabei ist ein Muster erkennbar: Der Einzelhandel wird diesmal nicht geschlossen, sogar Friseure bleiben geöffnet. Auch Gottesdienste dürfen noch stattfinden. Es gibt dafür wieder eine Art Ausgangssperre (oder eher: Ausgangsbeschränkung), 14 Tage lang. Das Haus verlassen darf nur, wer zum Arzt muss, in die Arbeit geht, alleine oder zu zweit Sport treibt, alte Menschen versorgt oder zu einer Beerdigung muss. Es gibt kein Kontaktverbot, aber die dringende Bitte, so weit möglich niemanden außerhalb des eigenen Haushalts zu treffen. Schule findet ab Mittwoch nicht mehr im Präsenz-
unterricht statt, keine Jahrgangsstufe mehr. Nur für einen kleinen Kreis gibt es eine Notbetreuung.
Dramatisch sind die Einschnitte für die Tourismusregion gerade rund um den Königssee und auch während der Herbstferien. Alle Restaurants schließen und dürfen nur noch bis 20 Uhr Essen zum Abholen anbieten. Die Hotels sind nur noch für die wenigen Geschäftsreisenden geöffnet. Alle Kinos, Saunas, Bars, Theater, Vereinsräume, Jugendherbergen und Volkshochschulen haben heute den Betrieb einzustellen. Veranstaltungen sind ohnehin verboten.
In der Staatsregierung wurde als noch drastischerer Schritt erwogen, einen Ort – Anger – oder den ganzen Landkreis abzuriegeln. Der Gedanke wurde wieder verworfen, auch wäre der Personalaufwand wohl riesig gewesen. Nun wird zwar die Bundeswehr angefordert, sie wird am Donnerstag mit 40 Mann anrücken – aber um das Gesundheitsamt bei der Nachverfolgung der Infektionsketten personell zu unterstützen. Auch die Nachbarlandkreise helfen kurzfristig mit Personal.
„Ein großer Schuss vor den Bug“