Geschlossene Schulen und Kitas, eingeschränkte Hilfsangebote, viel Zeit zu Hause – die Corona-Krise hat viele Familien vor eine Belastungsprobe gestellt. Laut einer Befragung der TU München hat etwa jedes zehnte Kind während der Kontaktbeschränkungen Gewalt erfahren müssen. Dagegen werde in Bayern zu wenig getan, sagt die SPD-Abgeordnete Doris Rauscher. Sie führt den Sozialausschuss im Landtag.
Hat die Corona-Krise Probleme wie Kindesmissbrauch verschärft?
Kindesmissbrauch und Kindesvernachlässigung waren schon vor Corona große Probleme – laut Kriminalstatistik kommen auf 100 000 Einwohner in Bayern 13 Missbrauchsfälle. Experten schätzen die Dunkelziffer noch gut zehnmal höher ein. Dann kam die Corona-Krise, die viele Familien stark belastet hat. Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie, Homeoffice und Homeschooling, Kurzarbeit und zum Teil der Verlust von Gehalt: Das hat in vielen Familien großen Druck ausgelöst. Und wenn der Druck unerträglich zunimmt, steigt oft auch das Gewaltpotenzial.
Weiß man bereits, ob und wie stark die Gewalt in Familien seit Corona zugenommen hat?
Ich habe eine Anfrage an die Staatsregierung gestellt, aber leider liegen noch keine Zahlen für 2020 vor. Mich macht das stutzig, immerhin ist schon Oktober. Der Ministerpräsident vermittelt gerne den Eindruck, dass in Bayern alles super sei – dem ist nicht so. Wir sind im Blindflug unterwegs und wissen nicht einmal, welche Auswirkungen die Corona-Pandemie auf das Kindeswohl hat. Mich erschüttert das. Vor allem, weil die Zahl an Missbrauchsfällen schon unabhängig von Corona hoch ist.
Ist Kinderschutz in der Krise zu selten Thema?
Ja, und das drückt mir die Zornesröte ins Gesicht. Es ist ganz klar: Kinderschutz macht Markus Söder nicht zur Chefsache. Ich komme beruflich aus der Frühpädagogik, deswegen liegen mir die Themen vielleicht auch besonders am Herzen. Aber ich habe in meinem Beruf Fälle von Missbrauch miterlebt und ich kann nur sagen: Da ist jeder einzelne Fall zu viel. Wenn Kinder keine Nahrung kriegen und deshalb die Tapete von den Wänden kratzen und essen. Wenn Kinder psychisch vernachlässigt werden oder sogar sexueller Missbrauch im Spiel ist. Dann verstehe ich wirklich nicht, warum das Thema nicht ernster genommen wird.
Was muss getan werden?
Wir brauchen viel mehr Jugendsozialarbeiter an Schulen. Momentan hat nicht jede Schule die Möglichkeit, einen Sozialpädagogen einzustellen, weil die Gelder knapp sind. Es muss einheitliche Schutzkonzepte an Schulen geben, damit jedes Kind weiß: Wo kann ich mich vertrauensvoll hinwenden. Da muss eine richtige Maschinerie anlaufen. Wir brauchen auch einen unabhängigen Missbrauchsbeauftragten für Bayern. Über unbefristete Kinderkranktage für Eltern sollte man doch zumindest in der Pandemie nachdenken. Außerdem muss sich der Freistaat stark dafür machen, dass Kinderschutz vor Datenschutz geht: Ärzte haben immer noch keine Meldepflicht bei Kindesmissbrauch.
Bestünde da nicht die Gefahr, dass Eltern mit ihren Kindern nach Missbrauchsfällen gar nicht mehr zum Arzt gehen?
Vielleicht. Aber ich glaube, manche Eltern betreiben lieber Ärztehopping, um nicht aufzufliegen: Springen also von einem Arzt zum nächsten, sobald einer wittert, dass es um einen Missbrauchsfall gehen könnte. Bei einer Meldepflicht würden immerhin Hinweise von verschiedenen Ärzten zusammenkommen und sich wie ein Puzzle zusammenfügen. Die Meldepflicht sollte aber für alle Berufe gelten, in denen man mit Kindern zu tun hat.
Interview: Kathrin Braun