Sun City – Die Wüstensonne im US-Bundesstaat Arizona brennt an diesem Tag schon um 10 Uhr morgens gnadenlos, als Gerry Rudolph in dem elektrisch betriebenen Golf-Cart mit der unübersehbaren „Trump/Pence 2020“-Fahne hinter dem Sitz seine morgendliche Runde durch die Nachbarschaft zieht. Der 72-Jährige nimmt dabei, wie es hier in Sun City üblich ist, die gesamte Fahrbahn ein. Gefahren muss er nicht fürchten: Schließlich gilt nicht nur Tempo 30, sondern auch das ungeschriebene Gesetz: In dem 1960 auf dem sandigen Boden einer früheren Wildwest-Geisterstadt gebauten Rentnerparadies, in der nur Bewohner älter als 55 Jahre als Bürger akzeptiert werden, ist gegenseitige Rücksichtnahme eine der Grundregeln. Das gilt sogar für den Wahlkampf, der andernorts hitzig geführt wird – gestohlene Werbetafeln und Handgreiflichkeiten inklusive.
E ist alles friedlich in Sun City, der Modellstadt mit den kleinen gepflegten Bungalows, den manikürten Rasenflächen und den acht immergrünen Golfplätzen, für die in dem unter Wassernot leidenden Südweststaat jede Nacht die Sprüh-Anlagen laufen. „Wir werden auch nach der Wahl noch gut miteinander auskommen“, sagt Rudolph über seinen Nachbarn. Vor seiner Garage hängt ein überdimensionales „Biden/Harris“-Plakat.
Für Donald Trump war Arizona auch dank Gegenden wie Sun City bisher das Gelobte Land. Der Präsident gewann den Bundesstaat 2016 mit 91 000 Stimmen Vorsprung – für viele eine Überraschung. Denn in Arizona, das eine Grenze mit Mexiko teilt, hat in den letzten Jahrzehnten ein überproportionaler Zuzug von Latinos stattgefunden, die mehrheitlich für die Demokraten stimmen. Doch die Republikaner konnten mit den ländlichen Regionen und den Rentner-Brigaden von Sun City mit seinen 38 300 Einwohnern gegensteuern. Kein Wunder angesichts der Demografie in der Stadt: 98,4 Prozent Weiße, 0,51 Prozent Schwarze und 0,3 Prozent Asiaten. Das Durchschnittsalter betrug laut der letzten Volksumfrage 75 Jahre. Und: Nur 2,5 Prozent der Familien in dieser Heile-Welt-Seniorenenklave leben unter der staatlichen Armutsgrenze.
Das wäre eigentlich ein perfektes Gemisch für Donald Trump, der in seinen zwei Reden am Montag in Arizona seinen bekannten Wahlkampf-Schlager anstimmte: Der Wohlstand wird unter Joe Biden dank höherer Steuern dahinschwinden. Die Börse wird abstürzen. Und überhaupt dieses für Trump so lästige Covid-19-Problem. „Das Thema wird doch durch Sender wie CNN hochgejubelt, um die Stimmabgabe zu unterdrücken“, wetterte der Präsident, der weiter die Pandemie trotz massiv steigender Infektionszahlen und eigener Erkrankung als Art lästigen Schnupfen abtut. Ein typischer Trump-Auftritt vor begeisterten Fans.
Doch wer Sun City unter die Lupe nimmt, kann klare Anzeichen dafür erkennen, dass ausgerechnet bei dieser „Schicksalswahl“ (Trump) die sonst so zuverlässigen Fußsoldaten der Partei schwächeln und eine der letzten Bastionen des Präsidenten bröckelt. Eine überraschend große Zahl von Häusern hat Schilder im Vorgarten, die für Biden und andere Demokraten werben. Trumps Herausforderer führt auch in Umfragen für den Bundesstaat Arizona, der am 3. November mit seinen elf Wahlmännern das Zünglein an der Waage spielen könnte. Das war vor vier Jahren noch undenkbar gewesen und ist im Lager der Republikaner natürlich aufgefallen.
Deshalb zeigte sich Donald Trump am Montag in den Städten Tucson und Prescott. In Sun City selbst soll bis zum Wahltag zumindest noch Präsidentensohn Donald Trump jr. die Werbe-Pflichten übernehmen und damit einen letzten Rettungsversuch starten. Doch der „Faktor Trump“, der seinen Sieg 2016 auch als Protest gegen das politische Establishment verstanden wissen will, scheint sich in Sun City abzunutzen. Eine Straßenparade von Golf-Carts mit Trump-Werbemitteln fand kürzlich nur wenige Dutzend Teilnehmer.
Wer mit den durchweg Masken tragenden Bürgern redet, hört immer wieder eine Aussage, die sich wie ein roter Faden durch das politische Denken zieht: „Wir brauchen einen Präsidenten, der für Recht und Anstand, aber auch für einen akzeptablen Umgang miteinander steht. Und der uns die Wahrheit sagt“, formuliert der 68-jährige Jim Johnson, ein Autoverkäufer im Ruhestand, seine Vorbehalte gegenüber Trump. Er habe vor vier Jahren für den Republikaner gestimmt, weil „die da oben“ in Washington dringend Erneuerung brauchen, sagt Johnson. Doch zu wenig habe sich angesichts der charakterlichen Schwächen des Präsidenten geändert. Deshalb bekommt in diesem Jahr Joe Biden die Stimme dieses Sun City-Bürgers. Es dürfte nicht die einzige sein.