München – „Es ist falsch, nur mit düsterer Mine apokalyptische Bedrohungsszenarien aufzuzeichnen“, sagt Andreas Gassen mit düsterer Mine. Der Chef der Kassenärztlichen Bundesvereinigung macht sich Sorgen. Und zwar nicht nur über das Coronavirus. „Wir können nicht das ganze Land Wochen und Monate in eine Art künstliches Koma versetzen“, sagt er. Wer dies tue, riskiere „bleibende Schäden“. Kurzum: „Eine pauschale Lockdown-Regelung ist weder zielführend noch umsetzbar.“
Gassen ist nicht alleine. Ärzte und Wissenschaftler sprechen sich am Mittwoch gegen ein breites Herunterfahren des Alltagslebens zur Corona-Eindämmung aus. Ein gemeinsames Papier stellt Gassen mit den Virologen Hendrik Streeck und Jonas Schmidt-Chanasit vor.
„Es geht nicht darum, die Lage zu verharmlosen“, sagt Streeck. Erst am Dienstag hatten die Deutsche Nationale Wissenschaftsakademie Leopoldina und fünf andere Forschungsgemeinschaften eine drastische Reduzierung von sozialen Kontakten gefordert. Aber es sei ein Irrglaube, dass man sich nur am Riemen reißen müsse, und dann in zwei Monaten „hier durch“ sei. „Auch wenn ein Impfstoff da ist, werden wir noch Jahre mit diesem Virus zu tun haben“, sagt Streeck. Man müsse sich auf einen Marathon vorbereiten, nicht auf einen Sprint. Leben zulassen, ohne andere zu gefährden – darum gehe es. Das Papier solle ein Diskussionsanstoß sein.
Darin regen die Unterzeichner unter anderem ein bundeseinheitliches Ampelsystem an, das das Infektionsgeschehen transparent darstellt. Zudem plädiert Streeck dafür, die individuelle Nachverfolgung persönlicher Kontakte von Infizierten aufzugeben. Das sei nicht einmal im Sommer voll umfänglich gelungen, und nun seien die Gesundheitsämter ohnehin überlastet. Vielmehr solle die Priorität auf Fälle mit Bezug zu medizinischen und pflegerischen Einrichtungen oder vielen Infizierten liegen.
Außerdem komme der Schutz der Risikogruppen derzeit zu kurz. Zwar werde in Pflegeheimen und Kliniken getestet, aber nicht systematisch genug. Auch brauche es mehr Hilfe für diejenigen, die sich zu Hause selbst isolieren. Sie sollten beispielsweise FFP2-Masken oder Testmöglichkeiten erhalten, um Besucher empfangen zu können.
Der Hamburger Virologe Schmidt-Chanasit betont, dass die geltenden Abstands-, Masken- und Hygieneregeln eigentlich ausreichend seien. „Aber sie müssen auch konsequent umgesetzt werden.“ Das gelinge nicht alleine mit Verboten. Es sei versäumt worden, in Zielgruppen hineinzuwirken, „die nicht so gut deutsch sprechen“, sagt Schmidt-Chanasit. Dort hätte man frühzeitig für Verständnis werben müssen. Es sei unverständlich, dass nun stattdessen Maßnahmen ergriffen werden sollten, „die weder zielgerichtet sind noch verhältnismäßig“. Ein vierwöchiger Lockdown werde „unter großen Nebenwirkungen“ die Fallzahlen sinken lassen. Doch dann stelle sich erneut die Frage: „Was ist eigentlich unsere Strategie?“ SEBASTIAN HORSCH