Warschau – Am Rondo Dmowskiego im Zentrum von Warschau geht am Freitagabend zur Hauptverkehrszeit gar nichts mehr. Dicht gedrängt stehen Demonstranten auf dem riesigen Verkehrskreisel, mehrere große Straßen musste die Polizei absperren. Von drei Sammelpunkten aus sind die Menschen hierher gelaufen, sie tragen Plakate mit den Aufschriften „Mein Körper, meine Wahl“ und „Ich möchte sicher gebären, nicht für eine Idee“. Manche zünden bengalische Feuer.
Die Organisation „Allpolnischer Frauenstreik“ hat zu einem zentralen Protestmarsch durch die Hauptstadt gegen eine Verschärfung des Abtreibungsrechts aufgerufen. Mehrere zehntausend Demonstranten seien es, twittert der Warschauer Vize-Bürgermeister Pawel Rabiej. Der Marsch soll ein Höhepunkt der Demonstrationen sein, die Polen seit Tagen erschüttern. In der vergangenen Woche hatte das Verfassungsgericht entschieden, dass Frauen auch dann nicht abtreiben dürfen, wenn ihr Kind schwere Fehlbildungen hat. Dies kommt einem Abtreibungsverbot gleich.
„Wir sind gezwungen, trotz der Pandemie auf die Straße zu gehen und unsere Rechte hinauszuschreien“, sagt Anita Winiarz. Die Mutter von zwei Kindern ist aus dem schlesischen Tychy angereist. „Über eine Schwangerschaft sollte jede Frau selbst entscheiden, nicht ein kleiner Mann mit Katze“, sagt sie in Anspielung auf Jaroslaw Kaczynski, den Katzenfan und Chef der Regierungspartei PiS. Für die junge Demonstrantin Justyna Piotrkowska steht fest: „Für mich ist eine Abtreibung nichts Schlimmes.“ Wenn jemand kein Kind haben wolle, sei dies die bessere Lösung, als es später ins Waisenhaus zu geben, findet sie.
Die Proteste sind eine neue Eskalation im Streit um das Abtreibungsrecht, um das in Polen seit Jahrzehnten gerungen wird. Bislang war ein Abbruch in Polen legal, wenn die Schwangerschaft das Leben oder die Gesundheit der Mutter gefährdet, Ergebnis einer Vergewaltigung ist oder wenn das Ungeborene schwere Fehlbildungen aufweist. Letzteres ist der häufigste Grund für eine Abtreibung, wie die Statistik des Gesundheitsministeriums zeigt.
Allerdings haben bereits jetzt viele Frauen in Polen sogar bei vorliegender medizinischer Indikation große Schwierigkeiten, einen Schwangerschaftsabbruch im Krankenhaus zu bekommen. Denn das polnische Recht ermöglicht es Ärzten und Pflegepersonal, diese Eingriffe per Gewissensentscheidung abzulehnen. Daher fahren viele Betroffene für eine Abtreibung ins Ausland – etwa nach Deutschland und in die Slowakei.
Die PiS-Politiker wurden überrollt von der Wucht der Proteste und der Wut, die sich gegen die Partei und die katholische Kirche richtet. Parteichef Kaczynski witterte gar eine Verschwörung: Die Demonstranten seien geschult von dunklen Kräften, die Polen vernichten wollten.
Bemüht, die Lage zu beruhigen, kündigte Präsident Andrzej Duda eine eigene Gesetzesinitiative an: Demnach soll ein Schwangerschaftsabbruch erlaubt bleiben, wenn es laut medizinischer Diagnose wahrscheinlich ist, dass das Kind tot zur Welt komme oder wegen seiner Fehlbildungen kurz nach der Geburt sterben werde.
Solche Vorschläge würden die Mehrheit der Demonstranten nicht zufriedenstellen, sagt der Politologe Antoni Dudek. „Sie verlangen eine Liberalisierung des Abtreibungsrechts und nicht nur die Bewahrung des Status quo.“ Für die PiS sei die Entscheidung des Verfassungsgerichts längerfristig eine „Hiobsbotschaft“. Denn die vor allem junge Demo-Teilnehmer wendeten sich zunehmend gegen die PiS. Dies könne sich in drei Jahren bei der Parlamentswahl rächen.