München – Wer gut aufpasst, bemerkt den Unterschied. Jens Spahns Stimme klingt belegt, nur ganz leicht zwar, aber hörbar. „Ich hatte zu jeder Zeit zum Glück einen eher milden Verlauf“, sagt der Gesundheitsminister am Dienstag in Berlin. Corona habe ihn trotzdem ein wenig demütig gemacht. Quarantäne, Isolation und die Sorge darum, wie die Krankheit verläuft – das sei belastend.
Es ist Spahns erster Auftritt nach überstandener Corona-Infektion, zu der er dann aber nur das Nötigste sagt: Dass er jetzt auch als Mensch erfahren habe, welch tollen Job das medizinische Personal mache. Und – nicht unspannend – dass er nicht wisse, bei wem er sich angesteckt habe. „Ich wäre einer von diesen 75 Prozent, die nicht sagen können, wo es passiert ist.“
Der Gesundheitsminister ist nun also selbst der lebende Beweis dafür, wie unkontrolliert sich das Virus ausbreiten kann. Spahn findet denn auch schnell in den mahnenden Grund-Sound der vergangenen Wochen und Monate zurück. Die Pandemie sei eine „echte Mammutaufgabe“, die Infektionszahlen wüchsen exponentiell, der Höhepunkt liege noch vor uns. Natürlich verteidigt er auch den Teil-Lockdown als nötiges Ziehen der „Notbremse“. „Unser Gesundheitssystem war bis hierhin zu keiner Zeit überfordert“, sagt er. „Aber es gibt nichts zu beschönigen.“
Überlastung – das ist offenbar die vordringliche Sorge, nicht nur bei Spahn. Auch der Vizepräsident des Robert-Koch-Instituts (RKI), Lars Schaade, warnt: „Unser Gesundheitssystem hat Grenzen.“ Zwar könne man im Moment noch jeden Erkrankten versorgen. Die Zahlen hält Schaade aber für besorgniserregend. Der R-Wert liege seit Wochen über 1, was exponentielles Wachstum bedeute. „Ginge es genauso weiter, hätten wir bis Weihnachten über 400 000 Neuinfektionen pro Tag.“
Das Rechenexempel der Kanzlerin (19 000 Neuinfektionen pro Tag bis Weihnachten) klang vor einigen Wochen ähnlich realitätsfern – ist aber doch wahr geworden. Der jetzige Lockdown soll verhindern, dass auch Schaades Rechnung stimmt.
„Wir müssen die Welle brechen. Wir müssen das exponentielle Wachstum stoppen“, sagt die Virologin Melanie Schade vom Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung und klagt über verlorene Zeit. „Wir haben im Sommer diskutiert, wie gefährlich das Virus ist und ob die Tests funktionieren. Ich bin es langsam etwas leid. Ich erzähle doch auch dem Automechaniker nicht, wo der Motor im Auto ist.“
Aus ärztlicher Sicht ist ein Problem weiter ungelöst: das fehlende Pflegepersonal auf den Intensivstationen. Schon vor der Pressekonferenz hatte der Präsident der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI), Uwe Janssens, gesagt, dass auch Intensivbetten als verfügbar gemeldet würden, für die es gar kein Personal gebe. Seiner Ansicht nach müssen die für Covid-Patienten wichtigen Kliniken darum schnell aus dem Regelbetrieb aussteigen und nicht unbedingt nötige Eingriffe verschieben. Das freie Personal könne so im Intensivbereich aushelfen. Zudem fordert Janssens, Einnahmeausfälle schnell und ohne zähe Verhandlungen mit den Kassen zu kompensieren. Spahn sagt umfassende Unterstützung zu. „Keine Klinik soll wegen Corona wirtschaftlich benachteiligt sein.“
Neben den Intensivstationen treibt auch die Labore die Sorge vor Überforderung um, gestern war von 100 Prozent Auslastung bei den Testkapazitäten die Rede. Das Limit ist also erreicht, deshalb hat das RKI nachgesteuert und seine Empfehlungen bezüglich der Testkriterien angepasst. Künftig sollen Ärzte noch stärker auf Symptome und die Zugehörigkeit zu einer Risikogruppe achten und dann entscheiden, ob ein Test nötig ist.