Präsidentin im Wartestand

von Redaktion

Sollte der 77-Jährige Joe Biden das Amt nicht mehr ausüben können, stünde seine Vize Kamala Harris bereit

München – Als Joe Biden am Wahltag zu seinen Fans spricht, wird es kurz unangenehm. „Ich will euch zwei junge Damen vorstellen“, ruft er ins Megafon und nimmt eine seiner Enkelinnen in den Arm, die ihn nach Philadelphia begleitet haben. „Das ist mein Sohn Beau“, sagt er dann. „Viele von euch haben ihn bei der Wahl in den Senat in Delaware unterstützt.“

Im Wahlkampf hatte der 77-Jährige immer wieder solche Aussetzer, die wohl nur deshalb nicht prägend wurden, weil er in Corona-Zeiten nur selten öffentlich auftrat. Nun steht er vor der Präsidentschaft und es fragt sich: Wie lange kann einer, der die Enkelin mit dem toten Sohn verwechselt, dieses mächtige Amt ausüben? Viele haben Biden darum in der Gewissheit gewählt, mittelfristig einer anderen ins Amt zu helfen: Kamala Harris.

Über eine mögliche Ablösung im Amt wird längst offen spekuliert. Biden, heißt es, wäre im Fall eines Sieges ein Übergangspräsident, seine Vizekandidatin perspektivisch seine Nachfolgerin. Sie ist gut 20 Jahre jünger und wäre, käme es denn so, die erste schwarze US-Präsidentin in der Geschichte.

So hätte die Kalifornierin über einen Umweg doch noch ihr eigentliches Ziel erreicht. Im Vorwahlkampf der Demokraten bewarb sie sich als Präsidentschaftskandidatin, zog aber wegen schlechter Siegchancen zurück. Im Frühjahr 2020 sprach sie sich dann für ihren ehemaligen Konkurrenten als Kandidaten aus.

Dass Biden seine Parteifreundin wiederum zum „Running Mate“ machte, galt als geschickter Schachzug. Anders als er selbst und die betagte weiße Konkurrenz (also Amtsinhaber Donald Trump und Vize Mike Pence) verkörpert Harris schon qua Herkunft die anderen USA. Ihre Mutter, eine Krebsforscherin, stammte aus Indien, ihr Vater, Vorname Donald, ist ein aus Jamaika eingewanderter Wirtschaftsprofessor. Beide waren in der Bürgerrechtsbewegung aktiv und sollen ihre Tochter schon im Kinderwagen zu Demos mitgenommen haben. Harris erinnerte sich daran einmal als „ein Meer aus Beinen“.

Später machte sie als Juristin Karriere. Sie habe nicht nur „auf der Straße nach Gerechtigkeit rufen“ wollen, sagte sie in einem Interview. Stattdessen wollte sie „ins System hineingehen, wo ich nicht um Erlaubnis fragen muss, um zu verändern, was verändert werden muss“. Die Karriere verlief schnell: Staatsanwältin in San Francisco, ab 2011 Justizministerin und Generalstaatsanwältin von Kalifornien. 2016 wurde Harris in den Senat gewählt, wo sie 2019 US-Justizminister William Barr mit Fragen grillte. Anlass: Der Sonderbericht zur Russlandaffäre Trumps.

Harris mag wie eine perfekte Ergänzung zu Biden wirken, ein natürliches Duo sind sie nicht. Im Vorwahlkampf griff sie ihn mehrmals direkt an. „Ich glaube nicht, dass sie ein Rassist sind“, sagte sie bei einer Debatte und schob ein dickes Aber hinterher. Sie warf dem damaligen Konkurrenten vor, in den 70er-Jahren mit rassistischen Senatoren zusammengearbeitet zu haben, etwa gegen das so genannte „busing“. So hieß die Praxis, Schulkinder per Bus in andere Bezirke zu fahren, um die Rassentrennung zu überwinden. Sie sei damals in der zweiten Klasse gewesen, erzählte Harris. Bidens Widerstand habe sie „verletzt“.

Sie nahm die Vorwürfe nie zurück – Biden forderte nie eine Entschuldigung. Härte gehört eben in die Politik, bisweilen auch unter potenziellen Verbündeten.

Die liberale „New York Times“ schrieb unlängst in einem Porträt, Harris sei „beißend, wenn es sein muss, aber eher vorsichtig bei Inhaltlichem“. Zudem fehle ihr die „ideologische Härte“, die viele Linke in ihrer nach links strebenden Partei erwarteten. Tatsächlich sind ihre Positionen in bestimmten Politikfeldern eher unscharf. Erst unterstützte sie etwa Bernie Sanders Forderung nach einer Krankenversicherung für alle, 2019 weichte sie die Position aber etwas auf. Auch der Forderung, der Polizei Mittel zu entziehen, schloss sich Harris nicht an.

Und trotzdem: Gemessen an Biden, der im klassischen Sinne moderat ist, steht Harris für die neue Generation ihrer Partei. Sollte sie einmal übernehmen, ob nun durch Übergabe oder – so sieht es das Gesetz vor – nach dem möglichen Tod des Amtsinhabers, bekämen die USA nicht nur die erste schwarze Präsidentin. Auch Stil und Inhalt der Politik würden sich vermutlich nochmals verschieben. MARCUS MÄCKLER

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