München – Unterschiedlicher konnten die Realitäten kaum sein. Als US-Präsident Donald Trump am Sonntag in Washington seine Geschichte vom großen Wahlbetrug wiederholte, traf sich am anderen Ende der Welt eine Gruppe von 15 Regierungschefs und Ministern zu einer Videoschalte. Es galt, einen Erfolg zu feiern. Nacheinander unterzeichneten die Damen und Herren ein Dokument mit enormer Tragweite.
Sie beschlossen nicht weniger als die größte Freihandelszone der Welt. Die „regionale, umfassende Wirtschaftspartnerschaft“ (RCEP) umfasst 2,2 Milliarden Menschen und rund ein Drittel der globalen Wirtschaftsleistung. Neben Staaten wie Vietnam, Singapur oder Indonesien sind auch große Volkswirtschaften wie Australien, Japan und Südkorea dabei. Der zentrale Akteur aber ist China, dessen Regierungschef Li Keqiang in Staatsmedien einen „Sieg für Multilateralismus und Freihandel“ ausrief.
RCEP lässt Zölle sinken und umfasst neben dem Handel auch Bereiche wie Dienstleistungen, Investitionen und Telekommunikation. Es ist ein asiatisch-pazifischer Coup, mit dem die Volksrepublik nicht nur die USA alt aussehen lässt, die unter dem Protektionisten Trump an Einfluss in der Region verloren haben. Nun stellt sich auch die Frage, was die EU dem neuen Wirtschaftsraum entgegenzusetzen hat.
Momentan fällt die Antwort ernüchternd aus. Experten und Politiker drängen deshalb darauf, den Machtwechsel in Washington für neue transatlantische Freihandelsgespräche zu nutzen. Der Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, Marcel Fratzscher, forderte in der „Welt“, Brüssel und Berlin müssten „mit ausgestreckter Hand“ auf die neue US-Regierung unter Joe Biden zugehen – auch um die Macht Chinas zu begrenzen. Der Chef der EVP-Fraktion im EU-Parlament, Manfred Weber, fordert ebenfalls eine europäische Initiative – schon aus strategischen Gründen. „Wir Europäer müssen Handelspolitik neu denken“, sagte er unserer Zeitung. „Es geht schon lange nicht mehr nur um Wirtschaft, es geht um die politische Macht im angehenden Jahrhundert.“
Die aktuell unterkühlten Handelsbeziehungen haben es fast vergessen lassen: Aber die EU und die USA waren eigentlich schon auf dem Weg, ein Abkommen zu schließen. TTIP stieß allerdings auf massive Widerstände, gerade in Deutschland. Neben Kritik an intransparenten Verhandlungen war da auch die Angst vor Sonderklagerechten für große Unternehmen und der Aufweichung europäischer Umwelt-, Sozial- und Verbraucher-Standards. Auch deshalb liegt TTIP seit Jahren auf Eis.
Die Standards sind es auch, die Weber mit Blick auf das RCEP-Abkommen Sorgen machen. Zwar sind darin einige Bereiche ausgeklammert, von Umwelt-, Arbeits- oder Menschenrechtsstandards ist kaum die Rede. Der EVP-Chef warnt trotzdem, jetzt gehe es darum, wer die weltweiten Maßstäbe setze. „Es ist Realität, dass die Europäer dazu verdammt sein könnten, einmal chinesische Standards zu akzeptieren, wenn wir nicht rechtzeitig handeln.“
Um das zu verhindern, sagt Weber, müssten die EU und die USA ihre Kräfte bündeln. Das Gewicht, das sie hätten, wäre beachtlich. Zusammen repräsentieren Washington und Brüssel rund 50 Prozent der globalen Wirtschaftskraft. Die Sache hängt aber nicht nur an Europa – sondern auch an der neuen US-Regierung. Als Vize-Präsident unter Barack Obama war Joe Biden auch mit TTIP befasst und forderte einst von den Europäern mehr Begeisterung für das Abkommen. Ob er selbst die Begeisterung für einen neuen Anlauf aufbringt? Die Chancen sind da. Allerdings wird auch Biden den Finger in die Wunden legen – etwa die deutschen Handelsüberschüsse.
Fakt ist: Die EU hat bereits zwei Verhandlungsmandate mit den USA. Sie sind aber begrenzt – laut Wirtschaftsministerium geht es unter anderem um die Abschaffung von Industriezöllen. Das frühere TTIP-Mandat, betont ein Sprecher, sei jedenfalls „obsolet“. Ein einfaches Anknüpfen an den letzten TTIP-Verhandlungsstand dürfte also ohnehin unrealistisch sein.
In Bayern wirbt mancher trotzdem dafür. FDP-Fraktionschef Martin Hagen nannte RCEP einen „Weckruf für Europa“ und forderte einen „neuen Anlauf für TTIP“. Man dürfe „China im Welthandel nicht das Feld überlassen“. Bayerns in diesen Dingen stets kritischen Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger (FW) forderte Hagen auf, seine „ablehnende Haltung zu Freihandelsabkommen wie TTIP schleunigst zu revidieren“. Aiwanger wollte sich auf Anfrage nicht äußern.