„Im Zweifel für die Regierung“

von Redaktion

München – Klagen im Fließbandverfahren: Mehr als 600 Eilanträge gegen die Corona-Maßnahmen im Teil-Lockdown haben bereits die Verwaltungsgerichte überrollt. Bei neun von zehn Eilanträgen halten die Maßnahmen aber vor Gericht, berichtet der Deutsche Richterbund. Walther Michl, Verfassungsrechtsexperte an der LMU, erklärt, was hinter den Entscheidungen steckt.

Herr Michl, können Gerichte überhaupt so viel in so kurzer Zeit entscheiden?

Die Gerichte fällen kein endgültiges Urteil, sondern erlassen nur Beschlüsse darüber, was bis zur endgültigen Klärung vorübergehend gelten soll. Das nennt sich einstweiliger Rechtsschutz. Natürlich kann die Prüfung dann nicht so gründlich ausfallen wie in einem Hauptsacheverfahren, wo man mehr Argumente austauschen und schwierige Rechtsfragen gründlicher durchdringen kann. Die Gerichte können nur abschätzen, wie die Hauptsache vermutlich ausgehen würde.

Fast alle Klagen sind bisher gescheitert. Warum?

In den meisten Fällen können Richter gut einschätzen, wie ein Verfahren ausgeht – allein durch die Berufserfahrung. Die hilft aber im Moment nur bedingt. Auch als erfahrener Jurist ist man nicht sicher, wie weit ein Lockdown gehen darf. Deshalb wägen die Gerichte meist nur die Folgen ab: Was könnte passieren, wenn wir jetzt falsch entscheiden? Wenn man dem Kläger Recht gibt, und später stellt sich heraus, dass die Maßnahmen der Regierung völlig in Ordnung waren – das könnte den Tod von vielen Menschen verursachen. Umgekehrt sind die Folgen viel weniger schlimm, wenn man die Klage ablehnt und sich später herausstellt, dass der Kläger doch Recht hatte.

Heißt also: Im Zweifel für die Regierung?

Ja. Man wägt ab: Welches Ziel verfolgt der Staat, welches der Kläger? Auf der einen Seite geht es um die Gesundheit und das Leben von Menschen. Auf der anderen Seite meist nur um Verdienstmöglichkeiten, also um Geld.

Verschwimmen da nicht die Grenzen zwischen Justiz und Politik?

Die Regierung hat viel bessere Erkenntnismöglichkeiten; Virologen und Epidemiologen, die ständig beraten. Richter können die Maßnahmen nur auf interne Logik kontrollieren und die gröbsten Verstöße herausarbeiten.

Das hat man in Bayern getan. Hier wurde die Schließung von Fitnessstudios gekippt, aber in NRW nicht. Das ist verwirrend.

Das liegt daran, dass die Maßnahmen in den einzelnen Bundesländern unterschiedlich umgesetzt werden. Der Verwaltungsgerichtshof in Bayern hat die Schließung der Fitnessstudios gekippt, weil sie gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz verstößt: Andere Indoor-Sportstätten wie zum Beispiel Yoga-Studios durften zumindest Individualsport anbieten. Deshalb hat Bayern einfach alle Sportstätten geschlossen – dadurch ist die Maßnahme wieder in Ordnung. In NRW gab es diese Ungleichbehandlung von Anfang an nicht.

Warum hat sich das OVG Bautzen über Politiker und Experten hinweggesetzt, als es die Corona-Demo in Leipzig erlaubt hat?

Mich wundert es nicht, dass das in Sachsen passiert ist. Denn vor allem da ist die gesellschaftliche Stimmung aufgeheizt, viele sprechen von einer zweiten Diktatur. Auch Richter können unter gesellschaftlichen Druck geraten – immerhin sitzen die ja nicht auf einer fernen Insel, durch das sie mit einem Fernglas auf uns schauen. Fachlich ist die Entscheidung des OVG aus meiner Sicht daneben gegangen. Das ist die Gefahr, wenn Gerichte in der Kürze der Zeit ihren Sachverstand höher einschätzen als die Entscheidungen der Regierung.

Wenn Gerichte unter diesem Druck einknicken – geht dadurch nicht das Vertrauen in den Rechtsstaat verloren?

Ein zweischneidiges Schwert. Es ist einfach wichtig, dass wir eine unabhängige Justiz haben und dass auch mal gesagt wird: Wir lassen nicht alles durchgehen. In Zukunft werden Gerichte noch oft beurteilen müssen, welche Maßnahmen wirklich richtig waren. Allerdings werden viele dieser Entscheidungen erst wieder für die nächste Pandemie eine Rolle spielen. Interview: Kathrin Braun

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