Wie die Grünen an die Macht wollen

von Redaktion

Parteitag im Netz: Gelingt es, volksparteimäßig viele mitzunehmen – und trotzdem grün zu bleiben?

Berlin – In strahlendem Weiß steht sie da und sagt: „Fürchtet euch nicht.“ Offenbar soll es ein Bibelzitat sein, wenn Annalena Baerbock konservative Wähler zu den Grünen locken will. „Diese Klima-Revolution ist in etwa so verrückt wie ein Bausparvertrag“, sagt sie. Robert Habeck wirbt mit ernstem Gesicht um Verständnis für die Autobauerin, den Kohlearbeiter, die Bauernfamilie.

So setzen die beiden Grünen-Chefs in ihren Reden am Wochenende den Ton – nicht nur für den digitalen Bundesparteitag und das neue Grundsatzprogramm, sondern für das kommende Jahr. Im Herbst 2021 will die einstige Protest-Partei nach 16 langen Jahren in der Opposition im Bund wieder an die Regierung, am liebsten auch ins Kanzleramt.

Wenn das klappen soll, müssen sie auch im Bund für CDU-Sympathisanten wählbar sein, nicht nur in einigen Ländern. Selbst der linksgrüne Anton Hofreiter sagt per Videobotschaft: „Wir verteufeln das Auto nicht, wir modernisieren es.“ Dass der Spagat zwischen der Vision einer „sozial-ökologischen Wende“ und der Umarmung bürgerlicher Wähler nicht einfach ist, zeigt der Parteitag aber auch. Die Delegierten stimmen kurz vor Schluss noch gegen den Willen des Vorstands für die „Orientierung an der Leit-idee eines Bedingungslosen Grundeinkommens“ – die Konservativen Schauer über den Rücken jagt.

Kurzer Realitätscheck: 18 bis 20 Prozent, 17 bis 19 Prozentpunkte hinter der Union – es ist nicht so, als hätten die Grünen schon einen Fuß in der Tür zum Kanzleramt. Dennoch reden sie schon länger vom Führungsanspruch. Nun spricht Parteichef Robert Habeck auch von Macht. Das sei ja ein „Igitt-Begriff“ in der Partei, komme aber von „machen“, sagt er. „Optimistisch arbeiten wir an Lösungen. Und für diese Lösungen kämpfen wir um die Macht.“

Fast nichts ist wie sonst bei dieser Bundesdelegiertenkonferenz, wie es im Grünen-Jargon heißt. Kein Applaus, Jubel oder verärgertes Raunen, keine strickenden Delegierten in langen Tischreihen, keine Familientreffen-Stimmung. Statt auf einer Parteitagsbühne bewegen Baerbock und Habeck sich in einer Art Fernsehstudio mit Kulissen. Wer applaudieren will, schickt Herzchen und Sonnenblumen in den Livestream – ein Symbol für Missfallen fehlt. Aber immerhin, das Prinzip funktioniert: Rede, Gegenrede, Abstimmung, drei Tage lang.

Auch das Verhandeln hinter den Kulissen gehört wie bei normalen Parteitagen dazu – am Samstag gelingt es Baerbock noch, einen Streit samt drohender Niederlage zum Ehrgeiz beim Klimaschutz abzuwenden. Das Streitthema Nato wird ebenso per Kompromiss abgeräumt wie ein Antrag der Grünen Jugend zur Polizei. Auch sonst darf die Parteispitze insgesamt zufrieden sein. Sie gewinnt die meisten Abstimmungen – die Partei rückt sogar von ihrem pauschalen Nein zur Gentechnik in der Landwirtschaft ab.

Die politische Konkurrenz kommt fast nicht vor. Baerbock widmet Union und SPD in ihrer Rede einen Satz, Habeck erwähnt sie erst gar nicht. Kein Zufall. Während die Konservativen vor einem rot-rot-grünen Schreckgespenst warnen, die Linken vor einem schwarz-grünen, sprechen die Grünen von sich selbst – und zwar von ihren Inhalten. Koalitionen spielen ebenso wenig eine Rolle wie die Frage nach der Kanzlerkandidatur. Ob nun links, mittig oder bürgerlich, eines sind die Grünen, jedenfalls zur Zeit: ziemlich diszipliniert. Wenn es nicht gerade ums Grundeinkommen geht. TERESA DAPP/MARTINA HERZOG

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