München – Die ersten Momente einer Landtagssitzung sind stets einem trägen Ritual unterworfen: Die Präsidentin eröffnet die Sitzung, murmelt Formalia und Geburtstagsglückwünsche. Von Zeit zu Zeit macht Ilse Aigner das aber anders, dann ist genau hinzuhören. Auch an diesem Dienstag: Aigner nutzt ihren Auftritt am Präsidentenpult, um den Abgeordneten mit wenigen Sätzen ins Gewissen zu reden. „Wir sind stolz auf unseren Parlamentarismus“, sagt sie, „und diesen Stolz lassen wir uns nicht nehmen.“
Nicht? Wirklich nicht? Aigner weiß, dass sie mit ihrem Satz an diesem Tag den Nerv im Landtag trifft. Im Parlament flammt eine kurze, heftige Debatte darüber auf, ob man nun über die anstehenden Corona-Beschlüsse der Ministerpräsidenten debattieren soll oder lieber nicht. Diese Front läuft zwischen Regierung und Opposition. Die Mehrheit aus Aigners CSU und dem Koalitionspartner Freie Wähler setzt durch, dass der Landtag erst in einer Sondersitzung am Freitag debattiert – wenn alle Beschlüsse von Ministerpräsidenten und Kanzlerin festgezurrt sind. Von Aigner ahnt man, dass ihr das zu spät ist.
So kommt es nun zur kuriosen Situation, dass ganz Bayern über den Lockdown berät, über Weihnachten und die Situation an den Schulen – der Landtag aber nicht. Die Freien Wähler sind turnusgemäß an der Reihe, das zentrale Debattenthema der Woche vorzugeben. Sie lassen die Abgeordneten über Egoismus in der Gesellschaft diskutieren – das hat indirekt mit Corona zu tun, aber nicht konkret mit dem Lockdown.
Ihr Abgeordneter Fabian Mehring begründet das offensiv damit, dass man Ministerpräsident Söder die Verhandlungen in Berlin nicht erschweren wolle. „Es wäre schlecht, den Korridor für die Ministerpräsidenten eng zu gestalten.“ Laut wird es im Saal, als Mehring der Opposition vorwirft, ihr Beharren auf einer Aussprache sei „Klamauk“, eine „Polit-Show“ und „schäbig“. Andere Abgeordnete reagieren zornig, ausnahmsweise fauchen sich Zwischenrufer im Landtag mit Vornamen an.
Die FDP, die vergeblich eine andere Tagesordnung erzwingen will, argumentiert anders. „Der Landtag darf keine Statistenrolle einnehmen, er muss Entscheider sein“, sagt der Abgeordnete Matthias Fischbach. Er verweist auf Nordrhein-Westfalen, wo der Landtag am gleichen Tag mitrede. SPD-Fraktionschef Horst Arnold warnt, es dürfe auf Dauer nicht so sein, dass vor Corona-Beschlüssen die Meinungshoheit allein bei den Regierungen liege. „Es geht nicht darum, dem Ministerpräsidenten enge Fesseln anzulegen, sondern um eine Debatte“, sagt der Grüne Jürgen Mistol. Und AfD-Fraktionschef Ingo Hahn nennt es „ein Drama, dass Sie nicht darüber reden wollen“.
Söder selbst verfolgt die Debatte nicht. Er tritt vormittags vor die CSU-Fraktion, wirbt dort für seinen Kurs, verlässt dann aber das Maximilianeum. Er kann nun ohne Vorgaben des Landtags am heutigen Mittwoch nach Berlin fahren. Am Donnerstag wird er mit dem Ministerrat in München die Beschlüsse analysieren, für Bayern umsetzen und in Details nachschärfen, es folgt eine Pressekonferenz in München. Am Freitag stellt er dem Landtag per Regierungserklärung die fertigen Beschlüsse vor.
CHRISTIAN DEUTSCHLÄNDER