München – Besorgte Eltern sehen gewöhnlich anders aus. Vor allem aber klingen sie anders als die knapp 400 Menschen, die sich am Mittwochabend auf dem Marktplatz von Hildburghausen trafen und von dort aus durch die Gassen der südthüringischen Kreisstadt streiften. Von Abstand konnte keine Rede sein, auch Masken trugen nur wenige. Besonders irritierte aber das Lied, das sie auf dem Weg durch die Nacht anstimmten: „Oh, wie ist das schön.“ 40 Polizeibeamte lösten die Veranstaltung schließlich auf, Pfefferspray kam zum Einsatz, über 30 Anzeigen wurden geschrieben.
Es sind verstörende Szenen, die sich rasch im Internet verbreiteten. „Besorgte Eltern“ ist dabei nur ein Etikett, das sich die Demonstranten für ihren Marsch verpasst haben. Dahinter stecken nicht bloß Familien, die gegen strenge Corona-Maßnahmen und existenzgefährdende Beschränkungen protestieren, sondern auch lokale Größen der rechten Szene.
Auch an jedem anderen Ort wäre ein solcher Auflauf in Corona-Zeiten heikel. In Hildburghausen aber kommt erschwerend hinzu, dass man gerade noch aus einem zweiten Grund überregional und unrühmlich in die Schlagzeilen geraten ist. Kein anderer Landkreis in Deutschland hat auch nur annähernd einen so hohen Inzidenzwert. Gestern lag er bei knapp 603. Das Robert-Koch-Institut führte diese Woche auf seiner Deutschland-Karte die Farbe Rosa für besonders schwer getroffene Regionen mit einem Wert über 500 ein. Der Landkreis Hildburghausen hat sie exklusiv.
Während die Empörten am Mittwoch auf die Straße gingen, berieten Bund und Länder darüber, wie man die Infektionszahlen in den Griff bekommen kann. Verglichen mit den Maßnahmen, die seit dieser Woche in Hildburghausen gelten, sind die Beschlüsse von Bund und Ländern beinahe harmlos. Die 40 Kindergärten und 28 Schulen im Landkreis sind geschlossen, und für die Bürger gelten strenge Ausgangsbeschränkungen. Nur „aus triftigem Grund“ darf man seine Wohnung verlassen. Eine Genehmigung für den Protest, den Teilnehmer als „Spaziergang“ verharmlosten, gab es dann auch nicht.
Es gärt in der Region, die bereits seit Wochen dramatische Werte verzeichnet. Bürgermeister Tilo Kummer (Linke) räumt ein, die Kommunikation sei bisher „nicht die Beste“ gewesen. „Es fehlt das Verständnis für die Maßnahmen.“ Das macht die Bilder vom Mittwoch für ihn aber auch nicht leichter nachvollziehbar. Er sei „fassungslos“, beklagte er noch am Abend via Facebook. „Was muss denn noch passieren, bis manche den Ernst der Lage begreifen?“
Was genau den Hildburghausenern ihren traurigen Spitzenplatz eingebracht hat, darüber gibt es nur vage Erkenntnisse. Landrat Thomas Müller (CDU) verweist auf „ganz, ganz viele kleine Quellen“: Familienfeiern und sonstige private Kontakte, auch die Nähe zu Bayern spiele eine Rolle. Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke) merkt an, die Zahl der Infektionen sei zuletzt derart rasant angestiegen, dass die Ursprünge „nicht mehr feststellbar“ seien. Die Lage ist mittlerweile „so diffus, dass es in der ganzen Bevölkerung drin ist“.
In Kürze will der Landkreis mit 11 000 Schnelltests beginnen, um Kinder rasch zurück in die Schulen und Kindergärten zu bringen. Daneben erhofft man sich neue Erkenntnisse über die Dunkelziffer der tatsächlichen Infektionen in diesen Einrichtungen. Landrat Müller ahnt: „Das wird eine Mammutaufgabe.“ Und damit meint er noch gar nicht den Dialog mit den Bürgern. MARC BEYER