„Wage zu träumen“: Das klingt wie ein Titel aus der Lebenshilfeliteratur. Ist Papst Franziskus jetzt unter die Träumer gegangen? Wer Träumer mit Spinnern oder Utopisten gleichsetzt, verpasst etwas! Denn es ist vielleicht das persönlichste Buch, das der Bischof von Rom bisher veröffentlicht hat: direkt, verblüffend ehrlich, authentisch, selbstkritisch, visionär, politisch brisant, getragen von einer schier unzerstörbaren (Glaubens-)Zuversicht. Und die überzeugt!
Man nimmt Franziskus ab, was er schreibt. Und vor allem: Wie er dies tut, auch wenn seine Beobachtungen und Wahrnehmungen als penetrant empfunden, (nach außen) als Sticheleien, Einmischung, Anmaßung oder (nach innen) als Nestbeschmutzung gedeutet werden können. Man hört ihn aus jeder einzelnen Seite heraus reden. Er wendet sich direkt an seine Leser – eine packende Lektüre.
Man wird das Gefühl nicht los: Das also könnte auch Kirche sein – eine Akteurin, die mithalten kann mit den großen Thinktanks, eine visionäre Vordenkerin, eine solidarische Gemeinschaft, die um den Einzelnen besorgt ist, besonders um die Verlierer der Modernisierungsprozesse. Eine Kirche also, die da ist für die Menschen und sich einsetzt, besonders für diejenigen, die am Rand stehen oder an den Rand gedrängt wurden. All das traut man der römisch-katholischen Kirche angesichts permanenter Skandalmeldungen – längst nicht nur in Sachen Missbrauch – eigentlich nicht zu.
Diesem Papst jedoch schon. Dabei hat man keineswegs unverbindliche „päpstliche Plaudereien“ vor sich. Seine Überlegungen sind weder spirituelle Erbaulichkeit noch seichte Phrasendrescherei, wie man sie aus kirchlichen Führungsetagen auch kennt. Hier hat man, ausgelöst durch die Corona-Krise, die Vision einer anderen Welt vor sich: Wie es auch sein könnte, verbunden mit der Hoffnung, dass es künftig anders laufen wird. Er verurteilt die Verfolgung der „armen Uiguren“, geht auf die #MeToo-Bewegung ein, er kommt auf die Tötung des Afroamerikaners George Floyd bei einer Polizeikontrolle in den USA zu sprechen. „Wir müssen unsere Wirtschaft neu entwerfen, sodass sie jedem Menschen Zugang zu einem Leben in Würde gibt und gleichzeitig die Natur schützt und regeneriert“. Plastikmüll in den Meeren wird mit der „ökologischen Bekehrung“ verknüpft. Die Vergiftung von Flüssen und die Zerstörung des Regenwaldes kommen in ein und demselben Satz vor wie Abtreibung, Euthanasie und Todesstrafe. Man muss kein Prophet sein, um sich auszumalen, aus welcher Richtung Proteststürme erfolgen werden.
Auch innerkirchlich wird dieses Buch fraglos Kritik hervorrufen von Kreisen, die Franziskus jegliche theologische Kompetenz absprechen. Der Jesuit schöpft aus dem Fundus seiner Erfahrungen als Erzbischof der Millionenstadt Buenos Aires. Er lässt dabei tief in die eigene Seele blicken. Er nennt drei „Covids“ aus seinem Leben, die ihn prägen: die lebensbedrohliche Erkrankung als 21-Jähriger, die zur Teilentfernung eines Lungenflügels führte („Covid der Krankheit“); der „freiwillige“ Studienaufenthalt in Deutschland im Jahr 1986, als 50-Jähriger, nach seinen Amtsjahren als Provinzial und Rektor eines Kollegs („Covid der Vertreibung“); und die Jahre 1990 bis 1992 als Seelsorger in Córdoba („Covid der Reinigung“). Damals las er „alle 37 Bände von Ludwig Pastors Geschichte der Päpste“: „Es war, als ob Gott mich mit einer Art Impfung vorbereitet hätte. Wenn du einmal diese Papstgeschichte kennst, dann kann dich wenig von dem, was im Vatikan und in der Kirche heute passiert, noch schockieren. Es hat mir sehr geholfen!“
Persönliche Krisenzeiten wurden für ihn zu Lernzeiten. Franziskus ist überzeugt: „Dies ist ein Augenblick, große Träume zu träumen, unsere Prioritäten zu überdenken.“ Und: „Mich erfüllt das mit der Hoffnung, dass wir mit einer besseren Zukunft aus dieser Krise herauskommen. Aber wir müssen klar sehen, gut wählen und richtig handeln.“ Es klingt wie ein Vermächtnis: „Denn dort bin ich angelangt: am Ende meines Lebens.“
Auf sieben Seiten finden sich sensationelle Aussagen über Frauen, die komplexe Situationen „besser sehen“ und „schneller reagieren“ könnten. Er warnt aber davor, sie zu klerikalisieren und auf „Funktionen“ zu reduzieren. Kein Weiheamt also. Als Erzbischof wie als Papst hat er Frauen in hohe Positionen gebracht. Zählt das? Oder nur die Weigerung, Weiheämter für Frauen zu öffnen?
Mit 17 hat man noch Träume. Mit über 80? Papst Franziskus wird demnächst 84. Abfinden will er sich mit der „Globalisierung der Gleichgültigkeit“ nicht. „Mit Zuversicht aus der Krise“, lautet der Untertitel des Buches, das ab 4. Dezember im Handel ist.
Papst Franziskus ist überzeugt: Die Welt kann aus der Corona-Krise mit einer besseren Zukunft herauskommen. Darüber schreibt er in seinem Buch „Wage zu träumen“.
Der ehemalige Herausgeber und Chefredakteur der Kulturzeitschrift „Stimmen der Zeit“, Jesuitenpater Andreas Batlogg, hat es für uns gelesen.