Ungewohnte Ruhe: Ein Jahr neue SPD-Spitze

von Redaktion

VON BASIL WEGENER

Berlin – Die Sigmar-Gabrielisierung der SPD ist ausgeblieben. Vor so einem Schreckensszenario hatte ein einflussreicher Abgeordneter Anfang Januar gewarnt. Den Parlamentarier hatte gestört, dass die damals frisch gewählten Parteichefs Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans mit einer neuen Idee nach der anderen an die Öffentlichkeit geprescht waren – ohne das in der Partei abzustimmen und sich um Mitstreiter zu bemühen. So gehe es nicht weiter, meinte der Sozialdemokrat damals. „Sonst droht die Sigmar-Gabrielisierung der SPD.“ Also eine Spontihaftigkeit wie unter dem früheren Parteichef Gabriel.

Was hat das unter spektakulären Umständen an die Macht gekommene Vorsitzendenduo seither aber erreicht? Und wohin steuert die SPD unter ihrer Führung?

Andrea Nahles löste am 2. Juni 2019 mit der Ankündigung ihres Rücktritts von der Parteispitze eine beispiellose Selbstbeschäftigung der SPD aus. Nach einer langen Deutschlandtour von zuletzt noch sechs Kandidatenduos stimmten 53 Prozent für die Bundestagsabgeordnete Esken und den früheren NRW-Finanzminister Walter-Borjans. Am 6. Dezember 2019 wurden beide dann auf einem SPD-Parteitag in Berlin zu den neuen Vorsitzenden gewählt.

Am Anfang rumpelte es ziemlich. Weite Teile des Parteiestablishments beäugten argwöhnisch jeden Schritt. In der Öffentlichkeit dominierten kritische bis hämische Kommentare. Kopfschütteln riefen Esken und Walter-Borjans mit Interviews hervor. Mal forderten sie ein Tempolimit, mal eine neue Steuer auf Bodenspekulationen. Doch die beiden Neuen bewahrten sich durch ihren Erfolg an der Basis Selbstbewusstsein. Sie und die, die vorher schon wichtig waren in der SPD, Ministerpräsidenten, Fraktionsspitze, Minister, rauften sich zusammen – und schafften ein geräuschloses Miteinander. Basta-Politik und internes Dauerhickhack war plötzlich gestern.

Mit vielem, was sie im SPD-internen Wahlkampf und in den ersten Tagen als Chefs gefordert haben, konnten sich Esken und Walter-Borjans nicht durchsetzen. Allerdings ist eine Kernforderung Realität geworden. „Wenn die schwarze Null einer besseren Zukunft für unsere Kinder entgegensteht, dann ist sie falsch, dann muss sie weg“, hatte Walter-Borjans gefordert. Mittlerweile hat auch die Union ihr jahrelanges Mantra aufgegeben, dass die Schuldenbremse heilig sei. Allerdings nicht, weil die SPD sie überzeugt hätte, sondern wegen der Corona-Krise.

Das SPD-Spitzenduo hält sich dennoch zugute, dass viele wichtige Entscheidungen der vergangenen zwölf Monate im Koalitionsausschuss bei Kanzlerin Angela Merkel getroffen worden seien. Auch sie hätten das Gremium im Kanzleramt zu einem Motor für politische Beschlüsse gemacht – etwa beim Konjunkturpaket, oder bei der Absage einer Kaufprämie für Autos mit Verbrennungsmotor. Nicht unerwähnt lassen sollte man allerdings auch, dass Vizekanzler, Finanzminister und mittlerweile Kanzlerkandidat Olaf Scholz kein ganz unwesentliches Wörtchen mitredet, wenn es um den Kurs der SPD in der Gesundheits- und Wirtschaftskrise in Deutschland geht.

Vor einem Jahr wurde Esken gefragt: „Was sind denn die Ziele, die Sie bis Ende 2020 erreichen wollen?“. Sie antwortete: „Zustimmungswerte für die SPD von 30 Prozent und vielleicht mehr.“ Heute liegt die SPD bei 15 bis 17 Prozent. Die Grünen bei 17 bis 21, die Union bei 34 bis 37 Prozent. Die SPD will nach der Wahl keine Große Koalition mehr – aber über ein rot-rot-grünes oder ein Ampelbündnis wird im Regierungsviertel derzeit viel seltener spekuliert als über Schwarz-Grün. Esken lässt sich davon nicht beirren. „Was mit CDU/CSU nicht zu verhandeln war, zeigt, wie dringend wir in Deutschland ein progressives Bündnis unter SPD-Führung brauchen“, sagt sie.

Artikel 4 von 11