Athen – Es ist eine gewaltige Zahl, die Griechenlands Migrationsminister Notis Mitarakis unlängst bekannt gab. In den ersten elf Monaten des Jahres seien 79 Prozent weniger Flüchtlinge und Migranten ins Land gekommen als im Vorjahreszeitraum, erklärte er. Während 2019 noch 70 684 Menschen über die Festlandgrenze zur Türkei oder auf die griechischen Ägäis-Inseln kamen, waren es bis Ende November 2020 nur 14 904. Ein echter Einbruch.
Das hat vor allem mit der restriktiven Politik der konservativen Regierung unter Premier Kyriakos Mitsotakis zu tun. Seit dem Wahlsieg im Juli 2019 verfolgt sie das Ziel, die Zahl neuer Asylbewerber zu drücken. Die Grundpfeiler dafür waren schon zuvor gelegt: nämlich die Schließung der Balkanroute und der EU-Türkei-Flüchtlingsdeal. Beides hielt viele Flüchlinge und Migranten davon ab, sich auf den Weg von der Türkei nach Griechenland zu machen, so die Lesart in Athen. Denn sie sehen Griechenland nur als Transitland auf ihrem Weg nach Mittel- und Nordeuropa. Traumziel: Deutschland.
Oberste Priorität der griechischen Flüchtlingspolitik ist es zudem, die Festland- und die Seegrenze zur Türkei zu „versiegeln“, um nicht zuletzt Schleppern das Handwerk zu legen. Griechenland soll eine Festung sein. An der Festlandgrenze zur Türkei wurden der Grenzzaun in Evros verstärkt und ausgebaut, die Patrouillen verstärkt und modernste Geräte bei der Suche nach Menschen eingesetzt, die die Grenze illegal überschreiten wollten. Dort ist die Grenze faktisch dicht.
In der Ostägäis ist das ein ungleich schwereres Unterfangen. Hier müssen offenbar andere, rechtswidrige Methoden her, um den Flüchtlingsstrom einzudämmen, nämlich Pushbacks. Das sind illegale Zurückweisungen von Flüchtlingen, denen keine Chance geboten wird, überhaupt einen Asylantrag zu stellen. Das scheint effektiv zu sein, verstößt aber gegen das Völkerrecht und die EU-Grundrechtecharta.
Wie die „New York Times“ enthüllte, hat die griechische Regierung seit März mehr als 1000 Geflüchtete auf hoher See ausgesetzt. Der „Spiegel“ berichtete von Maskierten, die im Mai auf Schiffen unter griechischer Flagge ein Flüchtlingsboot demolierten und die Menschen auf aufblasbare Rettungsinseln brachten. Dann sollen die vermeintlichen Küstenwächter die Rettungsinseln in türkische Gewässer geschleppt und zurückgelassen haben. Ferner soll Griechenland Menschen abschieben, die griechische Inseln schon erreicht haben. Diese Leute wurden offenbar schlicht nicht registriert. Ein Verstoß gegen den EU-Türkei-Deal.
Die Regierung Mitsotakis streitet die Vorwürfe vehement ab, ohne sie aber fundiert zu widerlegen oder wenigstens Untersuchungen einzuleiten. Das seien alles nur Fake News, die „die türkische Propaganda verbreite“. Auch die Europäische Grenzagentur Frontex, die am Evros und in der Ost-Ägäis im Einsatz ist, wies zuletzt vermehrt aufkommende Vorwürfe von Menschenrechtsorganisationen, Medien und Europaabgeordneten zurück, wonach sie die Pushbacks wissentlich dulde oder gar unterstütze.
Für Migrationsminister Mitarakis ist das alles kein Thema. Die neuesten Flüchtlingszahlen sind für ihn ein Erfolg. „Wir haben die Kontrolle gewonnen“, frohlockte er.