Rom – Trotz der Fortschritte in den Verhandlungen machte Giuseppe Conte gestern einen gehetzten Eindruck beim EU-Gipfel in Brüssel. Dort versuchten die EU-Mitglieder die Blockade des Haushaltpakets durch Polen und Ungarn zu lösen. Italiens Premier hatte aber genügend andere Gründe, unentspannt zu sein, und die liegen in Rom. In der Koalition aus Fünf-Sterne-Bewegung, Sozialdemokraten und der Splitterpartei Italia Viva knirscht es erheblich. Beobachter spekulieren über das baldige Ende der Regierung Conte, der 2018 als parteiloser Rechtsanwalt von der Protestbewegung Fünf Sterne nominiert worden war.
Am Abend zuvor hatte er sich gezwungen gesehen, die Hauptstadtkorrespondenten der großen Zeitungen von seinem Pressechef anrufen zu lassen, um die Angriffe aus den eigenen Reihen zu kontern. Die Mehrheit sei sicher, die Regierung stabil, die Stimmung trotz allem gut.
Davon konnte Stunden zuvor kaum die Rede sein, als Ex-Premier Matteo Renzi im Senat das Wort ergriff. Der Chef der Mitte-Links-Splitterpartei Italia Viva hatte anlässlich der Aussprache über die Verwendung der EU-Fördergelder für Italien nur Kritik am Premier und seinen Methoden geäußert. Er klang eher nach Opposition als nach Koalition.
Seine für den Erhalt der Regierung notwendige Partei werde das Haushaltsgesetz nicht mitwählen, drohte der vormalige Ministerpräsident. Renzi kritisierte insbesondere das Vorgehen Contes in der Vorbereitung der Verteilung der EU-Hilfsgelder aus dem 750 Milliarden Euro umfassenden Fonds, aus dem Italien mit 209 Milliarden den größten Anteil bekommen soll: „Es ist nicht in Ordnung, mitten in der Nacht um zwei Uhr ein Projekt von 128 Seiten zu bekommen, das Gesetz werden soll, ohne es im Parlament zu diskutieren.“ Er beschuldigte den Ministerpräsidenten, an Parlament und Kabinett vorbei Entscheidungen zu treffen.
In diesem Zusammenhang behagte dem Ex-Premier auch die von Conte beabsichtigte Task Force zur Verteilung der Gelder nicht: „Erst das Parlament um 300 Sitze verkleinern, aber dann 300 Berater einstellen.“ Er kritisierte, dass nur neun Milliarden Euro für den Gesundheitssektor ausgegeben werden sollen und die Gewerkschaften nicht daran beteiligt wurden, wohin das Geld fließen soll. Plakativ bot Renzi die beiden seiner Partei zustehenden Ministerposten an und sagte: „Das hier ist keine Talkshow, das ist nicht Big Brother, das ist das Parlament.“ Damit spielte er auf die Vergangenheit von Contes Pressesprecher Rocco Casalino an, der Teilnehmer an der TV-Show war. Renzis Generalkritik bekam den Applaus der mitregierenden Sozialdemokraten, auch Abgeordnete der Opposition klatschten. Der Auftritt wirkte wie ein Ultimatum.
Der Sturz der Regierung ist nicht auszuschließen, Neuwahlen scheinen während der Pandemie aber unwahrscheinlich. Zudem, so heißt es, würden damit zahlreiche Parlamentarier der Fünf-Sterne-Bewegung, aber auch von Silvio Berlusconis Forza Italia ihre eigene Karriere beenden. Wegen schlechter Umfragewerte ihrer Parteien hätten sie bei Neuwahlen keine Chance auf Wiedereinzug. JULIUS MÜLLER-MEININGEN