München – Die neuesten Infektionszahlen lassen erahnen, warum fast alle Politiker auf einen schnellen harten Lockdown gedrängt haben: Fast 28 000 weitere Erkrankte und 1000 Tote innerhalb von 24 Stunden meldete das bundeseigene Robert-Koch-Institut (RKI) gestern Morgen – Corona trifft Deutschland so hart wie nie zuvor. Und die Entwicklung könnte sich in den nächsten Tagen noch dramatischer zuspitzen. Der Hintergrund: Gerade in den Alten- und Pflegeheimen und unter Senioren rollt die Ansteckungswelle ungebremst weiter – trotz wochenlangen Teil-Lockdowns. Das geht aus dem brisanten Bericht von Forschern der LMU hervor.
Es droht eine Kettenreaktion: Die neuinfizierten Senioren könnten die Todeszahlen rasch weiter ansteigen lassen. Denn sie gelten als Risikogruppe Nummer eins bei Covid-19, der Multi-Organ-Erkrankung, die das Sars-Cov2-Virus anrichtet. In Bayern gehörten über 3200 der 5156 Corona-Toten der Generation 80 plus an. In dieser Altersgruppe ist die Sieben-Tage-Inzidenz nach Erkenntnissen der LMU-Wissenschaftler beinahe doppelt so hoch wie in der Gesamtbevölkerung. In Bayern lag sie für die über 80-Jährigen zuletzt bei 394, in Sachsen sogar bei 787.
„Die bisherigen Corona-Maßnahmen verfehlen den Schutz der Ältesten“, heißt es in dem Bericht der Corona Data Analysis Group (CoDAG), einer Gruppe von erfahrenen Statistikern. Ihre Kernaussage: Die Zahl der neuen Corona-Fälle ist in allen Altersgruppen bis Anfang November stark angestiegen. Danach flachte die Kurve etwas ab – außer bei den über 85-Jährigen. „Hier ist der Anstieg der Infizierten ungebrochen und steigt auch weiterhin an, besonders steil bei den über 90-Jährigen“, berichtet Professor Dr. Göran Kauermann. Die genauen Zahlen und weitere Erkenntnisse sind im Internet auf der Seite https: //corona.stat.uni-muenchen.de nachzulesen.
Der Co-Sprecher der Forschergruppe, Professor Dr. Helmut Küchenhoff, rief die Politiker dazu auf, Alten- und Pflegeheime bei Schutz- und Teststrategien stärker zu unterstützen: „Vor dem Hintergrund dieser dramatischen Zahlen kann es doch nicht sein, dass es in den Heimen beispielsweise an Testkapazitäten mangelt.“ Zudem stehe die Situation in diesen Einrichtungen immer noch viel zu wenig im Fokus der öffentlichen Diskussion, so Küchenhoff. „Es wäre wünschenswert, wenn Spitzenpolitiker wie Frau Merkel mehr über die großen Probleme sprechen, die wir in vielen Altenheimen haben.“
Ähnlich äußerten sich in Interviews mit unserer Zeitung bereits die führenden Virologie-Professoren Alexander Kekulé und Hendrick Streeck. Haben unsere Politiker also den Schutz der Heime verschlafen? „Bisher deutet sich keine Verlangsamung des Infektionsgeschehens für diese Bevölkerungsgruppe an“, berichten die LMU-Forscher. „Es zeigt sich deutlich, dass die ergriffenen Maßnahmen zur Infektionseindämmung für die hoch vulnerable Bevölkerungsgruppe nicht hinreichend zielführend sind.“ Deshalb fordern immer mehr Ärzte, dass das Infektionsgeschehen in den Heimen stärker unter die Lupe genommen wird. Das Mediziner-Netzwerk EbM kritisiert: „Eine gezielte Dokumentation aus der Altenpflege fehlt.“ ANDREAS BEEZ