Istanbul – Schutzkleidung wird in Istanbul inzwischen für alle Begräbnisse angelegt – als Vorsichtsmaßnahme. „Schließlich können wir nicht sicher sagen, wer an Corona gestorben ist und wer nicht“, sagt Ayhan Koc, Leiter des Friedhofsamts in Istanbul. Koc ist für die rund 570 Friedhöfe der Millionenmetropole zuständig. Zurzeit hätten sie jeden Tag etwa 400 Begräbnisse in der Stadt – doppelt so viel wie in normalen Zeiten.
Die Corona-Fallzahlen in der Türkei steigen seit Wochen. Im Frühjahr schien die Türkei die Pandemie gut im Griff zu haben – inzwischen gehört sie zu den am stärksten betroffenen Ländern weltweit. Ärztevertreter sagen, die Lage in den Krankenhäusern sei besorgniserregend. Intensivstationen seien überfüllt. Die Kliniken müssten aus Platzmangel immer wieder Notfallpatienten ablehnen, heißt es von der Vereinigung der Intensivkrankenschwestern.
Osman Kücükosmanoglu, Generalsekretär der Istanbuler Ärztekammer, sagt: „Die Situation ist außer Kontrolle geraten.“ Ärzte und Opposition fordern zu schon bestehenden Ausgangssperren noch strengere Maßnahmen. Und sie verlangen vor allem Transparenz. Denn die Zahlen in der Türkei lösen Zweifel aus.
Rund 30 000 Neuinfektionen mit dem Coronavirus registriert die Türkei zurzeit täglich – etwas mehr als in Deutschland bei fast gleicher Einwohnerzahl. Eine regionale Aufschlüsselung der Fallzahlen wird nicht bekannt gegeben. Am Mittwoch meldete Gesundheitsminister Fahrettin Koca mit 240 Corona-Todesfällen an einem Tag einen neuen Höchststand. Opposition und Ärztevereinigung gehen aber davon aus, dass täglich deutlich mehr Menschen an oder mit dem Virus sterben.
Friedhofschef Koc führt darüber Statistik. Als Todesursache werde Covid-19 nicht offiziell verzeichnet, die Verstorbenen würden auf dem Totenschein unter der Kategorie „Infektionskrankheiten“ eingetragen. Um einen Eindruck darüber zu bekommen, wie viele Menschen in Istanbul mit Covid-19 gestorben seien, hat er die Sterberaten verglichen: In den Jahren 2016 bis 2019 seien im November rund 6000 Menschen gestorben, also etwa 200 pro Tag. In diesem November waren es 11 500 – also fast doppelt so viel. Die Regierung müsse die hohen Todeszahlen erklären, sagt Koc.
Schon im Sommer war die Ärztevereinigung alarmiert, weil die Zahlen der Regierung nicht mit eigenen übereinstimmten. Gesundheitsminister Koca gab dann im September zu, dass monatelang nur die Infizierten mit Symptomen veröffentlicht wurden. Die Bundesregierung hob als Konsequenz eine Ausnahmeregelung für vier Urlaubsregionen auf und erklärte wieder für die gesamte Türkei eine Reisewarnung. Durch inkorrekte Zahlen hätten sich die Bürger in falscher Sicherheit gewogen, kritisiert Nursel Sahin, Vorsitzende der Ärztekammer von Antalya. Die Urlaubsregion gehört inzwischen zu den am meisten vom Virus betroffenen Regionen im Land.
Die Regierung weist Vorwürfe zurück. Präsident Recep Tayyip Erdogan sagte am Montag, man handhabe die Pandemie transparent und gemäß internationalen Standards. Gesundheitsminister Koca wehrte sich erst kürzlich gegen Kritik. Das Gesundheitssystem stehe international gut da und die Regierung erhöhe ständig die Kapazität von Intensivbetten. „Seid stolz auf die Türkei“, ruft er Kritikern entgegen.