Der oberste „Querdenker“ auf dem Rückzug

von Redaktion

Gründer ruft zu Großdemo-Verzicht auf – Kritik an Finanzgebaren und Reichsbürger-Kontakten

München – Stuttgart, Schlossplatz, 11. April 2020: Rund 20 Menschen protestieren gegen das Versammlungsverbot, das seinerzeit in der baden-württembergischen Landeshauptstadt gilt. Die Polizei löst das Treffen auf, erteilt Platzverweise. Eine Randnotiz in örtlichen Medien. Kaum jemand sieht hier den Beginn einer Entwicklung, die bald den Verfassungsschutz beschäftigt – und jetzt vor einem Umbruch steht.

Eine Woche nach der ersten Zusammenkunft kommen 50 Menschen zum Schlossplatz, diesmal angemeldet. Die Stadt wollte nicht genehmigen, doch das Bundesverfassungsgericht gibt grünes Licht. Mit dabei ist Michael Ballweg. Er tritt als Gründer einer Initiative namens „Querdenken 711“ auf. Die 711 ist angelehnt an die Stuttgarter Vorwahl.

Bald gründen sich in vielen Städten „Querdenken“-Ableger. Sie heißen, ebenfalls angelehnt an die jeweiligen Telefonvorwahlen, „Querdenken 30“ in Berlin oder „Querdenken 089“ in München – bis heute ohne klare Rechtsform wie etwa eine Vereinsstruktur. Sie veranstalten zahlreiche Kundgebungen gegen Corona-Maßnahmen mit teilweise mehreren Zehntausend Teilnehmern unterschiedlichster Hintergründe. Mit dem Zulauf wächst aber die Kritik, auch an der Person Ballweg.

Ballweg hatte sich „Querdenken“, in Kombination mit mehr als einem Dutzend verschiedenen Telefonvorwahlen, als Wortmarken schützen lassen. An T-Shirts und Pullovern mit den Aufdrucken verdient er mit. Das Geld verwendet er nach eigener Auskunft zur Finanzierung von Kundgebungen.

Dass er Anhänger aufruft, Geld auf sein Privatkonto zu überweisen – formal eine Schenkung, keine Spende – nennt er in einer Pressemitteilung eine Übergangslösung. Es handle sich um ein separates Übergangskonto bis zur Gründung einer Stiftung, die jedoch von Behörden verzögert werde.

Die Berichte über das Finanzgebaren kratzen an Ballwegs Ruf, auch in der Bewegung. Zudem nimmt in Baden-Württemberg der Landesverfassungsschutz „Querdenken“ unter Beobachtung. Anfang Dezember verkündet Landesinnenminister Thomas Strobl (CDU), es gebe „hinreichend gewichtige Anhaltspunkte für eine extremistische Bestrebung“. Die Bewegung vernetze sich gezielt mit Reichsbürgern und Rechtsextremisten, stellt die Chefin des Landesverfassungsschutzes fest. Sie verweist auch auf den Sturm auf die Reichstagsstufen bei der großen Demonstration Ende August in Berlin. Ballweg bestreitet Kontakte zur Reichsbürger-Bewegung nicht, sagt aber, man müsse deswegen ja nicht deren Meinung teilen.

Auch im zweiten Lockdown will Ballweg zunächst weiter demonstrieren. „Querdenken“ meldet Anfang Dezember für Silvester 22 500 Teilnehmer in Berlin an. Die Stadt will das nicht erlauben. Man weicht auf den 30. Dezember aus, auch das wird am 23. Dezember verboten.

Am 24. Dezember meldet sich Ballweg zu Wort. Doch er kündigt nicht etwa Klagen gegen das Verbot an. Er bittet in einer Video-Botschaft darum, das Verbot zu akzeptieren. Er kündigt zudem an, vorerst keine großen Demonstrationen anzumelden. Auch den anderen „Querdenken“-Ablegern empfehle er das. Man wolle Kraft sammeln, sagt er. Er rufe dazu auf, dass sich eine andere Organisation finde, die in naher Zukunft Großdemonstrationen anmelde.

Beobachter sehen darin einen möglichen Rückzug der Person Michael Ballweg. Der versuche schon, „mit seiner Beute zu türmen“, schreibt der Antisemitismusbeauftragte der baden-württembergischen Landesregierung, Michael Blume, auf Twitter.

Das sind bisher Mutmaßungen. Doch sollte Ballweg sich tatsächlich zurückziehen, ist es mit der Bewegung, an die sich neben friedlichen Demonstranten auch Extremisten angedockt haben, nicht vorbei. Da sind sich Szenekenner sicher. Mit dem Zerfall solcher Bewegungen gehe oft eine Radikalisierung einher, warnt etwa der Antisemitismusbeauftragte Blume. STEFAN REICH

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