Wien – „Unser Zugang ist: Koste es, was es wolle. Um österreichische Arbeitsplätze zu retten.“ Mit seinem frühen Bekenntnis zum öffentlichen Geldregen in der Corona-Pandemie hat Österreichs Kanzler und ÖVP-Chef Sebastian Kurz schon im März ein zentrales Ziel seiner neuen Koalition aufgegeben. Sein international beachtetes Bündnis mit den Grünen sollte eine Fortsetzung von Etatdisziplin und Schwarzer Null bringen. Stattdessen kletterte die Staatsschuldenquote 2020 laut Wirtschaftskammer von 70,5 auf 84,2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts.
Im ersten Jahr der Zusammenarbeit von konservativer ÖVP und Grünen – die Regierung war am 7. Januar vereidigt worden – zwang das Virus beide Partner zur Flexibilität. Für die Grünen war die neue Regierungserfahrung auf Bundesebene schon ohne Corona ein teils schmerzhafter, lehrreicher Prozess.
Das größte Dilemma entstand für sie im September mit der Diskussion über die Aufnahme von Flüchtlingskindern aus dem Lager Moria in Griechenland. Sie stimmten zur Enttäuschung vieler Anhänger im Parlament gegen die eigentlich der Parteilinie entsprechenden Oppositions-Anträge zur Aufnahme von 100 Kindern. „Wenn wir dafür stimmen, begehen wir Koalitionsbruch“, sagte Fraktionschefin Sigrid Maurer.
Die Koalition ist die erste ihrer Art in Wien. Ihre Besonderheit: Sie garantiert beiden Partnern in ihren Kerngebieten viel Bewegungsfreiheit. Die ÖVP redet den Grünen möglichst wenig in Umweltthemen hinein – umgekehrt haben die Konservativen die Hoheit bei Fragen des Inneren. Bei der Migration gibt es ein Schlupfloch: Die ÖVP kann sich Mehrheiten mit anderen Parteien wie der rechten FPÖ suchen.
Die fast verzweifelt wirkende Linie der Grünen: Für die Aufnahme aus Moria werben und den Koalitionspartner zu überzeugen versuchen. Die ÖVP setzt indes auf Hilfe vor Ort. Das Konzept wurde zuletzt ergänzt um die Ankündigung, eine Tagesbetreuungsstätte für 500 Kinder auf Lesbos errichten zu wollen.
Auch beim Themenkatalog für den Ibiza-Untersuchungsausschuss und den geplanten Anti-Terror-Maßnahmen nach dem islamistischen Anschlag in Wien, die die Möglichkeit einer lebenslangen Verwahrung für radikale Islamisten vorsehen, haben die Grünen die ÖVP-Linie mitgetragen. „Die grüne DNA wurde mehrfach verletzt“, bilanziert der Politikberater Thomas Hofer. Immerhin: In Klimafragen sind das Erneuerbare Ausbau Gesetz, das Österreich auf Ökostrom umstellen soll, und ein attraktives landesweites Ticket für Bus und Bahn auf Schiene.
Doch geprägt hat das erste Jahr der neuen Regierung die Corona-Krise. Der grüne Gesundheitsminister Rudolf Anschober wurde zeitweise der neue Star der Regierung, aber dann erfüllten weder die Corona-App noch die Corona-Ampel die Erwartungen. Die anfangs so günstigen Infektionszahlen stiegen zuletzt dramatisch an. Nun soll es ein dritter Lockdown richten.
Für die Grünen hat sich die erste Regierungsbeteiligung auf Bundesebene bislang als zweischneidiges Schwert erwiesen. Bei der Vorstellung der Koalition hatten Kurz und Grünen-Chef Werner Kogler „das Beste aus beiden Welten“ versprochen: „Es ist möglich, das Klima und die Grenzen zu schützen“, betonte Kurz damals. Ein Jahr danach steht die Koalition in Umfragen immer noch sehr gut da. Die ÖVP übertrifft mit 40 Prozent sogar ihr Ergebnis bei der Wahl (37,5 Prozent).
Aber Corona bietet Zündstoff: Die finanzielle Reparatur der Schäden wird in den nächsten Jahren wohl zur Nagelprobe. Für die Grünen steht eine Lasten-Gerechtigkeit ganz oben. Schon früh in der Krise hat Vizekanzler und Grünen-Chef Werner Kogler für Erbschafts- und Schenkungssteuern geworben. Das würde bisherige rote Linien der ÖVP überschreiten.
Einen gewissen Trost hat die liberale Zeitung „Der Standard“ für die Grünen parat. „In seiner Gesamtheit steht dieses Land politisch rechts; und zwar dermaßen rechts, dass die FPÖ selbst vier Monate nach Ausstrahlung des Ibiza-Videos noch auf 16 Prozent der Stimmen kam.“ Brächen die Grünen die Koalitionsräson, würde sich rein gar nichts ändern.