Am heutigen Donnerstag endet die halbjährige deutsche Ratspräsidentschaft in der EU. Im Vorfeld gab es hohe Erwartungen an die Rolle Berlins. Über die Bilanz der deutschen Präsidentschaft sprachen wir mit Peter Becker, Europaexperte der Stiftung Wissenschaft und Politik.
Wie fällt Ihr Fazit aus?
Die Bilanz ist gut. Diese Präsidentschaft verlief ja ganz anders, als sie geplant und vorbereitet wurde. Eigentlich sollte ein Schwerpunkt in diesem Halbjahr Europas Verhältnis zu China und zu Afrika sein, aber die Pandemie hat diese Pläne über den Haufen geworfen. Dennoch war sie ein Erfolg, weil die deutsche Präsidentschaft auf die Veränderung der großen Projekte durch die Herausforderungen der Pandemie schnell und pragmatisch reagiert hat. Die großen Themen, vom EU-Haushalt bis zu den Klimazielen, wurden erfolgreich zu Ende gebracht.
In puncto Haushalt fußt der Erfolg auf einem bedeutenden Kurswechsel der deutschen Position in der Finanzpolitik: Galt jahrelang das Prinzip Kontrolle und Haftung als Berliner Credo, verkündete man im Verbund mit Paris plötzlich die Einigung auf gemeinsame Schulden in Europa.
Ja und nein. Ja, es ist richtig, dass sich die deutsche Position in puncto Haushalt, neue Eigenmittel für die EU und gemeinsame Verschuldung fundamental verändert hat. Aber gleichzeitig lautet die Antwort auch nein, denn wenn man die langen Linien der deutschen Europapolitik betrachtet, passen diese Veränderungen in das deutsche Konzept hinein. Es ist ein Stück Kontinuität. Denn es war immer Primat deutscher Europapolitik, alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union zusammenzuhalten. Das Ziel war stets vorrangig.
Genau dies war im Frühjahr in großer Gefahr…
Bevor Frau Merkel sich mit Präsident Macron im Mai auf einen gemeinsamen EU-Rettungsfonds geeinigt hatte, gab es doch große Konflikte zwischen den Nord- und Südeuropäern. Vergessen wir nicht: Italiens Premier Conte warf der deutschen Politik damals Herzlosigkeit vor. In den Zeitungen war von tiefem Streit, gar Zerwürfnis zwischen Paris und Berlin die Rede und vieles andere. Die Veränderung der deutschen Haltung war deshalb für alle anderen EU-Partner – außer Macron, der ja involviert war – eine große Überraschung. Aber in die großen Linien deutscher Europapolitik fügen sich diese Positionswechsel ein.
Um zu einer einstimmigen Verabschiedung des EU-Haushalts und des Rettungsfonds zu kommen, musste ein Veto von Ungarn und Polen wegen des Rechtsstaatsmechanismus überwunden werden. Wie bewerten Sie den gefundenen Kompromiss?
Auch dies ist wieder unter dem langfristigen Aspekt zu sehen, alle Mitgliedstaaten mitzunehmen, auch die Polen und Ungarn. Die Alternative wäre gewesen, den Weg von 25 gegen die beiden anderen in der Frage des Rettungsfonds zu gehen. Das war sozusagen der letzte Pfeil im Köcher. Das hat man verworfen. Jetzt hat man einen Rechtsstaatsmechanismus, der aber – das war bereits vor der Gipfeleinigung im Dezember klar – nur auf die korrekte Verwendung von EU-Geldern in Polen und Ungarn zugeschnitten ist. Es geht nicht um die Frage, wie in Ungarn Medien oder private Universitäten behandelt werden. Das ist weniger als man sich gewünscht und erhofft hat, aber mehr, als bisher möglich war. Am Ende war es wichtiger, das Gesamtpaket hinzubekommen.
In der Asylpolitik gab es keinen Erfolg. Dabei hatte Innenminister Horst Seehofer doch so auf eine Einigung gehofft. Sehen Sie trotzdem Fortschritte?
Auch in diesem Punkt muss man sich die Rahmenbedingungen dieser Präsidentschaft vor Augen führen, die wegen der Pandemie einfach sehr schlecht waren. Die großen Erfolge, vom Haushalt bis zum Klimapaket, wurden auf höchster Ebene in Anwesenheit aller Akteure verhandelt. Das sehr sensible Thema Migration, Flüchtlingspolitik, Außengrenzschutz ist eigentlich auch nur zu lösen, wenn alle Akteure zusammen an einem Tisch sitzen. Es gibt nun einmal grundsätzlich unterschiedliche Auffassungen in dieser Frage von Ungarn und Polen, aber auch Österreich im Vergleich zu anderen Ländern. Deshalb war es vielleicht vermessen, unter diesen Corona-Rahmenbedingungen einen großen Fortschritt zu erwarten.
Blicken wir auf Kanzlerin Merkel. Viele erwarteten von dieser Präsidentschaft quasi das europapolitische Vermächtnis der im nächsten Jahr ausscheidenden Kanzlerin. Welche Spuren hinterlässt sie in Europa?
Ich glaube, dass Frau Merkel in diesem Punkt unterschätzt wurde. Man hat zwar von Helmut Kohl immer als großem Europäer gesprochen, aber auch Frau Merkel hat und hatte stets diese proeuropäische Grundposition. Sie ist diesen langen Linien der deutschen Europapolitik ihrer Vorgänger gefolgt. Und sie war in der Lage, diese Position in ihrer eigenen Fraktion und Partei durchzusetzen und dabei über manche Entscheidungen der letzten zwanzig Jahre hinweg zu gehen. Das haben wir ja anfangs besprochen. Diese Veränderungen waren in der Krise aber auch notwendig.
Ist das das Vermächtnis?
Man hat Merkel ja lange vorgeworfen, auf die berühme Sorbonne-Rede von Präsident Macron die deutsche Antwort schuldig geblieben zu sein. Merkel hat mit dieser Präsidentschaft zwar keine Vision Europas entworfen, aber sie hat eine Antwort auf Macron gegeben und Entscheidungen durchgesetzt, die große Veränderungen bringen können. Das kann man durchaus als große Zäsur in der Europapolitik ansehen.
War der Merkelsche Pragmatismus vielleicht genau das, was Europa in der Krise gebraucht hat?
Ja, sie hält keine großen Reden wie Macron, sie ist pragmatisch und fährt in ihrer Politik gern auf Sicht. Aber trotzdem hält sie die große Linie. Ihrem Credo ist sie, bei allen Veränderungen im Detail, treu geblieben: Deutschland gehe es nur gut, wenn es Europa gut geht. Insofern war war sie in dieser Pandemie als Krisenmanagerin Europas zur richtigen Zeit am richtigen Ort.
Interview: Alexander Weber