Virus-Mutation treibt Pandemie auf der Insel

von Redaktion

Forscher: Ausbreitung von Sars-CoV-2-Variante B117 macht schärfere Maßnahmen nötig

München – Immer wieder setzte Großbritanniens Premierminister Boris Johnson auf Lockerungen. Jetzt kommt er angesichts der aktuellen Corona-Fallzahlen an harten Maßnahmen zur Pandemie-Eindämmung nicht vorbei. 57 000 Neuinfektionen verzeichnete das Königreich am Samstag. „Möglicherweise gibt es Dinge, die wir in den nächsten Wochen tun müssen, die härter sein werden“, sagte der Premier in der BBC. Fest steht bereits, dass die Schulen nach den Weihnachtsferien zu bleiben.

Bereits im November hatten sich Teile Großbritanniens im harten Lockdown befunden. Das Infektionsgeschehen war trotzdem nicht wirklich im Griff. Das dürfte auch an der neuen, erstmals im September festgestellten Variante des Coronavirus liegen. Das legt eine nachträgliche Datenauswertung des Imperial College in London nahe. Während des November-Lockdowns verlangsamte sich zwar vielerorts die Ausbreitung der bekannten Virus-Varianten. Die Mutante B117 aber breitete sich immer schneller aus.

Der R-Wert, der sagt, wie viele weitere Menschen ein Infizierter durchschnittlich ansteckt, lag in fast allen untersuchten Regionen unter dem Wert 1, wenn man nur die Verbreitung der früheren Varianten betrachtete. Für B117 lag er meist deutlich darüber. Nur wenn der Wert insgesamt unter 1 liegt – das heißt, wenn statistisch nicht jede infizierte Person wieder eine weitere ansteckt –, verlangsamt sich die Ausbreitung. Die regionalen Unterschiede in Königreich zeigen: Vor allem dort, wo die Mutation B117 um sich griff, explodierten die Fallzahlen.

Mit der neuen Variante infizierte Personen tragen wohl mehr Viren in sich und scheiden beim Atmen, Husten und Niesen eine höhere Viruslast aus. Gleichzeitig dockt B117 leichter an menschlichen Zellen an. Rechnerisch kommen die Forscher zu dem Schluss, dass B117 um 50 Prozent ansteckender ist.

Die Wissenschaftler betonen dabei, dass ihre Daten aus einer Zeit mit recht striktem Lockdown stammen. Ohne Maßnahmen wären die Ausbreitungsrate von B117 eventuell dramatischer. Ihre Folgerung: Maßnahmen des Social Distancing müssen stringenter sein, als sie es ohne die Mutante sein müssten.

Dass die neue Mutante anscheinend nicht häufiger zu schweren Verläufen und nicht zu höherem individuellem Sterberisiko führt, ist kein Anlass zur Entwarnung, sagen Forscher. Adam Kucharski, Professor an der „London School of Hygiene & Tropical Medicine“, versuchte das kürzlich mit einem Rechenexempel zu verdeutlichen: Insgesamt führe eine Virus-Variante, die 50 Prozent tödlicher wäre, zu weit weniger zusätzlichen Todesfällen als eine Variante wie B117 mit gleicher Sterberate, aber einer um 50 Prozent erhöhten Ansteckungswahrscheinlichkeit.

Unter den damaligen Umständen in Großbritannien – ein R-Wert von 1,1 und ein Sterberisiko bei Infektion von 0,8 Prozent – würden 10 000 aktive Infektionen zu einem Zeitpunkt X zu 129 Todesfällen binnen eines Monats führen, rechnete Kucharski vor. Würde sich das Sterberisiko um 50 Prozent erhöhen, würde das 193 Todesfälle bedeuten. Eine Erhöhung der Ansteckungswahrscheinlichkeit um 50 Prozent dagegen würde ohne veränderte Eindämmungsmaßnahmen den R-Wert in die Höhe treiben und so zu 978 Toten in einem Monat führen.

Bei einer anderen Sorge in Zusammenhang mit „B117“ geben sich die Autoren vom Imperial College zurückhaltend. Es zeige sich zwar eine statistisch signifikante Erhöhung der Fallzahl bei den unter 20-Jährigen. Sie sei aber moderat und möglicherweise damit erklärbar, dass die Gesamtbevölkerung im Lockdown Kontakte reduzierte, während die Schulen geöffnet waren. STEFAN REICH

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