München – Ein gewisser Brian Pinker spürte gestern, wie sich Erleichterung anfühlt. In der Uniklinik in Oxford erhielt der 82-Jährige den Corona-Impfstoff der britischen Firma AstraZeneca – als erster im Königreich. Er freue sich und sei stolz, dass das Vakzin in Oxford entwickelt wurde, sagte Pinker. Das Land freut sich mit ihm, denn im Kampf gegen das Virus verfügt es nun über zwei Impfstoffe. So mancher Brite schaut vielleicht etwas mitleidig rüber auf den Kontinent.
Dort herrscht nämlich trübe Stimmung. Während sich die EU-Kommission nach wie vor für ihre zögerliche Einkaufspolitik rechtfertigen muss, wächst auch der Ärger auf die Bundesregierung. Berlin, so lautet der Vorwurf, trage Mitschuld am schleppenden Impfstart. Das birgt innenpolitisch viel Zündstoff.
Angela Merkel soll einem Bericht zufolge eine zentrale Rolle dabei gespielt haben, den nationalen Einkauf von Impfstoff zu verhindern. Während Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) und seine Kollegen aus Frankreich, Italien und den Niederlanden in einer Impf-Allianz mit ersten Herstellern verhandelten, intervenierte laut „Bild“ das Kanzleramt. Demnach wollte Merkel zu Beginn der deutschen EU-Ratspräsidentschaft den Eindruck eines Alleingangs verhindern und Brüssel mit den Verhandlungen betrauen. Um das zu besiegeln, seien Spahn und seine Kollegen sogar dazu gedrängt worden, einen devoten Brief an EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen zu verfassen.
Der Vorwurf ist brisant, Regierungssprecher Steffen Seibert versuchte gestern, ihn zu entkräften. In der Impf-Allianz sei ein europäisches Vorgehen von Beginn an angelegt gewesen, sagte er. Die Bundesregierung stehe hinter dieser Grundsatzentscheidung. Engpässe lägen nicht an der Einkaufspolitik der EU, sondern an den Produktionskapazitäten der Hersteller. Ein Spahn-Sprecher sagte zudem: „Es gibt genug Impfstoff für Deutschland.“
Die zunehmenden Klagen und Vorwürfe sind allerdings nicht zu überhören. CSU-Chef Markus Söder zog eine direkte Linie zur anstehenden Verlängerung der Corona-Maßnahmen. „Wir müssen jetzt leider den Lockdown verlängern, weil nicht genügend Impfstoff da ist“, sagte er dem Sender RTL. Inhaltlich mag das wacklig sein, politisch hat der Satz aber Schlagkraft.
Auch der Koalitionspartner SPD ist zunehmend unzufrieden – und nimmt vor allem Gesundheitsminister Spahn ins Visier. Generalsekretär Lars Klingbeil warf ihm Chaos vor und forderte Merkel auf, sich einzuschalten. Deutschland stehe „viel schlechter da als andere Länder“. SPD-Vize Kevin Kühnert sagte, die EU und Spahn müssten sich fragen lassen, „ob es nicht möglich gewesen wäre, mit einem größeren Einsatz von finanziellen Mitteln zum Zeitpunkt der Beschaffung der Impfstoffe größere Vorräte zu besorgen“. FDP-Fraktionsvize Michael Theurer forderte eine Entschuldigung Spahns für das „Impf-Versagen“.
Die innenpolitische Auseinandersetzung dürfte zunehmen, wenn die Diskrepanz zwischen Geimpften in Deutschland und in anderen Ländern wächst. Spahn, für den es auch um die politische Zukunft als möglicher CDU-Kanzlerkandidat geht, verteidigt sich – und sucht nach einem Ausweg. Laut einem Ministeriums-Schreiben, über das der „Spiegel“ berichtet, lässt er die Möglichkeit prüfen, die von Biontech/Pfizer empfohlene zweite Impfung zeitlich zu strecken, um so mit der Impfung von mehr Menschen starten zu können.
Vor Unions-Abgeordneten soll Spahn zudem gestern viel mehr Tempo versprochen haben. Es könne ein Impfangebot für alle Interessierten „wohl im zweiten Quartal 2021“ geben, wird er zitiert. Also vor dem Sommer – dank weiterer Impfdosen von Biontech und Moderna.
Letzterer ist noch nicht zugelassen. Hoffnung macht aber die europäische Arzneimittelbehörde EMA. Sie steht offenbar kurz vor der Empfehlung des Impfstoffs der US-Firma, vielleicht heute. 160 Millionen Moderna-Dosen sind bestellt – für die ganze EU.
Spahn: Impfung doch vor Sommer