München – Es gab offenbar Gesprächsbedarf. Die „Bild“-Zeitung dokumentierte am Dienstagabend genauestens, wie Gesundheitsminister Jens Spahn um 19.46 Uhr vor dem Bundeskanzleramt seiner Dienstlimousine entstieg – und erst um 0.07 Uhr in Begleitung von Angela Merkel wieder aus dem Haus kam. Corona birgt politischen Sprengstoff wie lange nicht: der schleppende Impfstart, die unzureichende Schutz der Alten- und Pflegeheime. Und dazu kommt nun noch die Sorge vor einem dramatischen Anstieg der Infektionskurve durch die Virusmutation. In London liegt der Inzidenzwert inzwischen bei mehr als 1000.
Am Mittwoch versuchte Spahn bei seiner Regierungserklärung dennoch einen möglichst gelassenen Eindruck zu vermitteln. Während sich Bayerns Ministerpräsident Markus Söder derzeit alarmiert zeigt, betont Spahn die Hoffnung durch die Impfungen. „Schritt für Schritt kommen wir dahin, dass wir unser Leben nicht mehr von der Pandemie kontrollieren lassen – sondern die Pandemie kontrollieren“, sagte der Minister. Aber ein bisschen Geduld sei noch gefragt, schließlich befinde man sich gerade in der vielleicht schwersten Phase mit Corona: „Wir müssen da jetzt gemeinsam durch.“
Es ist kein leichter Auftritt für Spahn. Erneut muss er sich die mangelhafte Impfstoffbeschaffung vorwerfen lassen. FDP-Chef Christian Lindner, der Spahn eigentlich freundschaftlich verbunden ist, sagt sogar: „Bis heute ist es unvermittelbar, dass Ski- und Rodelpisten besser kontrolliert werden als der Zugang zu Alten- und Pflegeheimen. Ein angemessener Schutz von Risikogruppen geht anders.“ Bei 1060 Toten am Vortag ist das eine ziemlich klare Schuldzuweisung.
Spahn aber spricht vor allem über „die größte Impfkampagne in der Geschichte der Bundesrepublik“. Es sei richtig gewesen, europäisch zu handeln. „Wir dürfen Europa nicht nur in Sonntagsreden beschwören. Wir müssen unseren Worten auch Taten folgen lassen, wenn es darauf ankommt.“ Deutschland und Frankreich seien auch alleine in der Lage gewesen, genügend Impfstoff zu bestellen – nicht aber kleinere Länder. Dort wären dann vermutlich China und Russland eingesprungen. „Das vermeintlich kurzfristige nationale Interesse ist nicht unser langfristiges“, mahnte Spahn.
Grund für die aktuelle Knappheit seien fehlende Produktionskapazitäten und nicht fehlende Verträge. „Wir können, Stand heute, voraussichtlich im Sommer allen ein Impfangebot machen“, sagte Spahn. Von Biontech und Moderna kämen mehr als 140 Millionen Impfstoffdosen – den neuen Vertrag noch nicht eingerechnet. Dazu zählt er auf: 60 Millionen Dosen von Curevac, 56 Millionen von AstraZeneca, 37 Millionen von Johnson & Johnson. Zudem unterstütze man Biontech dabei, in Marburg einen zusätzlichen Produktionsstandort einzurichten. „Wenn alles gut geht, wird das bereits im Februar der Fall sein“, so Spahn.
Jetzt beginnt laut Spahn die Überzeugungsarbeit, damit sich viele impfen lassen. Laut „Bayerntrend“ ist im Freistaat nur bei über 65-Jährigen die Bereitschaft ausgeprägt: 68 Prozent wollen sich sicher, 18 Prozent wahrscheinlich impfen lassen. Jüngere Jahrgänge sind deutlich zurückhaltender. Bei den 18- bis 39-Jährigen wollen sich nur 38 Prozent sicher impfen lassen.
Spahn hat deshalb auch kein Problem damit, dass sich die Europäische Arzneimittelbehörde bei der Zulassung etwas länger Zeit lässt. „Wir werden auf der Strecke merken, dass wir das Vertrauen in die Sicherheit des Impfstoffes noch sehr brauchen werden. Und zu diesem Vertrauen trägt eine ordentliche Zulassung bei.“ MIKE SCHIER