Zerreißprobe in Italien

von Redaktion

Ex-Premier Matteo Renzi zieht zwei Ministerinnen ab und löst eine Regierungskrise aus – nun drohen Neuwahlen

Rom – In Italien ist das eingetreten, was sich angesichts der Corona-Pandemie nur die allerwenigsten wünschen konnten: eine handfeste Regierungskrise, der Bruch der Koalition. Der Rücktritt des Regierungschefs steht im Raum, Neuwahlen sind nicht ausgeschlossen. Gestern Abend kündigte Parteichef Matteo Renzi den Austritt der zwei Ministerinnen Teresa Bellanova (Landwirtschaft) und Elena Bonetti (Familie) der von ihm geführten Partei Italia viva (Iv) aus der Regierung von Premier Giuseppe Conte an. Im Senat hat die Exekutive ohne Iv keine Mehrheit.

Die Differenzen zwischen Renzi und Conte drehten sich zuletzt um die Pläne zur Verwendung der EU-Milliardenhilfen für die Corona-Krise. Der parteilose Ministerpräsident hatte seinen Entwurf in der Nacht zu Mittwoch gegen den Widerstand der Ministerinnen Bellanova und Bonetti im Kabinett beschließen lassen. Beide Politikerinnen forderten, dass Rom Gelder des europäischen Rettungsschirms ESM beantragen solle. Das lehnt Conte ab.

Die Corona-Pandemie hat in Italien schon fast 80 000 Todesopfer gefordert, kein Land der EU wurde schlimmer getroffen. Die drittgrößte Volkswirtschaft der Union muss einen Einbruch der Wirtschaftsleistung um zehn Prozent hinnehmen. Die Impfkampagne ist zu organisieren, die Regierung muss über die Verwendung der EU-Milliarden entscheiden. Die politische Krise kommt also zum schlimmstmöglichen Zeitpunkt.

Verantwortlich für den Bruch ist ein alter Bekannter: Ex-Ministerpräsident Matteo Renzi. Bis nach der Parlamentswahl 2018 war er Parteichef des sozialdemokratischen Partito Democratico (PD). In der eigenen Partei zog er so viel Unmut auf sich, dass er 2019 seine eigene Partei Italia viva gründete. Die Linksregierung aus Fünf-Sterne-Bewegung, PD, Iv und einer weiteren Kleinpartei bildete sich im Sommer 2019, um den Aufstieg zur Macht von Ex-Innenminister Matteo Salvini und der rechten Lega zu stoppen. Ihr Ruhepunkt ist Conte, der Italien per Dekret durch die Pandemie führte. Der Premier ist bei den Italienern beliebt, Renzi ist er ein Dorn um Auge.

„Der beliebteste Politiker des Landes darf nicht vom unbeliebtesten Politiker abgesägt werden“, warnte Ex-Ministerpräsident Massimo D’Alema. Was hat Renzi an Conte auszusetzen? Offiziell sind es dessen Politikstil und mangelnde Visionen. Der Hauptgrund zeigt sich aber in den Umfragen, denen zufolge die Renzi-Partei derzeit mit nur drei Prozent der Stimmen rechnen kann. Die Partei Italia viva steht kurz vor ihrem politischen Tod. Der zu Beginn seiner eigenen Amtszeit ab 2014 beliebte und als Reformer gefeierte Ex-Premier Renzi will der Bedeutungslosigkeit entkommen.

Renzis Kalkül ist gefährlich. Neuwahlen kann sich nur die Opposition wünschen. Iv würde wohl aus dem Parlament verschwinden. Renzi spekuliert auf einen Neuanfang. Dazu zielte er mit seiner Kritik auf den von Conte im Hauruckverfahren vorgelegten Plan zur Verteilung der EU-Gelder. Und doch geht es ihm in erster Linie um die eigene Zukunft. Italia viva sitzt in der Conte-Falle. Das ist der Grund für den waghalsigen Angriff. Sollte es keinen Ausweg aus der Krise geben, bleiben nur Neuwahlen. Den Preis für den Zeitverlust und die mangelnde Koordination der Krise müssten dann die Bürger zahlen. JULIUS MÜLLER-MEININGEN

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