Moskau – „Freiheit für Nawalny!“ und „Putin, hau ab!“: Die Rufe von zehntausenden Menschen erschallen am Samstag in mehr als 100 russischen Städte. Unabhängige Medien berichten von 40 000 Demonstranten allein in Moskau – trotz des mit der Corona-Pandemie begründeten Kundgebungsverbotes, trotz extremer Minusgrade, trotz massiver Polizeigewalt und trotz Strafandrohungen und Festnahmen im Vorfeld. Solche Proteste hat das Land zehn Jahre nicht gesehen.
Doch der Kreml spielt die Massenproteste herunter: Es seien „wenige Menschen“ zu den Protesten gegangen. Hauptthema der Staatsmedien ist, dass angeblich Kinder verleitet wurden zu Protesten. Putins Gegner Alexej Nawalny hingegen, der am vergangenen Montag nach seiner Rückkehr aus Deutschland in einem Eilverfahren zu 30 Tagen Haft verurteilt worden war, wird als „Verbrecher“ gebrandmarkt. Tatsächlich sind vor allem junge Menschen auf den Straßen, aber nicht im Kindesalter, wie dpa-Reporter vor Ort berichteten.
In Moskau prügeln Uniformierte der gefürchteten Sonderpolizei OMON auf Demonstranten ein, die Absperrungen durchbrochen haben und mit Schneebällen werfen. In St. Petersburg tritt ein OMON-Angehöriger einer 54-Jährigen Frau so massiv in die Magengrube, dass sie mit dem Kopf auf dem Asphalt schlägt. Sie hatte gefragt, warum die Uniformierten einen Demonstranten abführen. Sie kommt mit einer Gehirnerschütterung bewusstlos ins Krankenhaus. Mehr als 3500 Demonstranten werden letztlich festgenommen.
Vorübergehend in Polizeigewahrsam sind am Wochenende erstmals auch Nawalnys Ehefrau Julia und zum wiederholten Mal seine Mitarbeiterin Ljubow Sobol. Viele von Nawalnys Mitarbeitern waren schon vor den Protesten festgenommen worden.
Wegen des brutalen Vorgehens fordern ins Ausland geflüchtete russische Oppositionelle die EU zu Sanktionen gegen Oligarchen und Freunde von Putin auf. „Jagt sie, verfolgt ihre Geldströme“, sagt der frühere Schachweltmeister Garri Kasparow. „Hört auf, mit der Mafia zusammenzuspielen.“ Die Sanktionsgesetze in den USA und in der EU lägen bereit, um die Vermögen von Putins milliardenschweren Freunden im Westen zu sperren.
Die neue US-Regierung reagiert und verurteilt die „harschen Methoden“ der russischen Sicherheitskräfte im Umgang mit Demonstranten und Journalisten. Über weitere Sanktionen wollen die EU-Außenminister am heutigen Montag beraten. Auch in Deutschland und anderen Staaten demonstrieren am Wochenende Menschen für die Freilassung Nawalnys. In Berlin sind es rund 2000, die an der russischen Botschaft vorbeiziehen.
„Putin ist ein Dieb!“ ist ein weiterer Ruf, der am Samstag von Moskau bis Sibirien zu hören ist. Korruoptionsvorwürfe gegen Putin und seinen Machtapparat erhebt Alexey Nawalny seit Jahren. In seinem jüngsten Enthüllungsvideo über die Bereicherung an der Staatsspitze zeigt Nawalnys Team unter dem Titel „Ein Palast für Putin“ erstmals Bilder, Augenzeugenberichte und Dokumente zu Russlands größtem privaten Anwesen. Der 44-Jährige hält es für erwiesen, dass das milliardenschwere „Zarenreich“ mit Casino, Eishockey-Arena und Hubschrauber-Landeplatz Putin gehört.
Finanziert worden sein soll alles aus Schmiergeldern, die der Kremlchef von seinen Freunden in Staatskonzernen und von Oligarchen erhält. Der Kreml wies das wiederholt als „Unsinn“ zurück. Doch auch Tage nach der Veröffentlichung des Videos mit fast 80 Millionen Aufrufen bis Sonntagnachmittag hat sich noch niemand zu dem Grundstück am Schwarzen Meer bekannt.
Die Staatsmacht habe zwei Fehler gemacht, meint die russische Politologin Tatjana Stanowaja: „Die Vergiftung Nawalnys und seine Verhaftung.“ Die Proteste hätten ihm nun russlandweit Legitimation verschafft und machten ihn zu einer Heldenfigur. „Das Bild vom berechenbaren Politiker und Abenteurer hat sich gewandelt – er wird nun als „einer von uns“ und als „unser Mann“ angesehen.“ Nawalnys Team spricht von einer „grandiosen gesamtrussischen Aktion“ – und kündigt eine Fortsetzung der Proteste am kommenden Wochenende an.