München – Es fällt schwer, auch fast 80 Jahre danach. Gefasst steht Charlotte Knobloch am Rednerpult, sie erzählt aus ihrem Leben, wie schon so viele Male, von Schmerz und Verlust. Sie spricht auch von ihrer Großmutter, der Frau, die sie „Liebe zu den Menschen“ lehrte, und die in Theresienstadt ermordet wurde. An den Tag des Abtransports erinnert sie sich genau. „Weinend klammere ich mich an sie“, sagt die heute 88-Jährige und kurz versagt ihr die Stimme. „An Liebe, Zärtlichkeit, Geborgenheit – lange werden sie aus meinem Leben verschwinden.“
Das Gedenken, heißt es bisweilen, sei starr geworden, zu Tode ritualisiert. Das gilt nicht für diesen Auftritt. Die Präsidentin der israelitischen Kultusgemeinde München ist neben der Grünen-Politikerin Marina Weisband die Hauptrednerin bei der gestrigen Gedenkstunde für die Opfer des Nationalsozialismus im Bundestag. Sie hält eine tief bewegende, aufrüttelnde Rede.
Bewegend, weil ihre Erlebnisse – Ausgrenzung, Gewalt, Hass – noch immer sprachlos machen. Aufrüttelnd, weil Knobloch eindringlich warnt. „Ich stehe vor Ihnen als stolze Deutsche“, sagt sie zu Beginn. Deutschland, ihre Heimat, leiste viel, damit jüdische Menschen hier wieder sicher seien. Und trotzdem wachse angesichts des wieder aufkeimenden Antisemitismus die Angst. „Ich trage schwer daran, dass sich in den Wunsch nach Normalität immer wieder die alten Sorgen mischen“, sagt sie. Nicht wenige Juden dächten heute wieder daran, auszuwandern.
Im Bundestag, wo oft Gezänk dominiert, herrscht während der halbstündigen Rede andächtige Stille. Selbst in den Reihen der AfD. Dabei spricht Knobloch sie direkt an. „Ich kann nicht so tun, als kümmerte es mich nicht, dass Sie hier sitzen“, sagt sie und blickt in die Reihen ganz rechts von ihr. „Sie werden weiter für Ihr Deutschland kämpfen, und wir werden weiter für unser Deutschland kämpfen – und ich sage Ihnen: Sie haben Ihren Kampf vor 76 Jahren verloren.“ Versteinerte Mienen bei der AfD, aber einen Eklat wie 2019, als ein Großteil der bayerischen AfD-Fraktion bei ähnlicher Gelegenheit den Saal verließ, leistet sich niemand.
Ebenso offen wie Knobloch erzählt Marina Weisband, was es heißt, heute in Deutschland Jüdin zu sein. Es bedeute, sein Jüdischsein verstecken zu müssen, sagt sie. „Einfach nur Mensch zu sein, ist Privileg derer, die nichts zu befürchten haben aufgrund ihrer Geburt.“ Die beiden Frauen trennen mehr als 50 Jahre, in ihrer Vehemenz trennt sie nichts.
Der Kampf gegen Antisemitismus ist den meisten Anwesenden eine Verpflichtung. Knobloch aber spricht von einer „Lücke zwischen politischer Räson und gesellschaftlicher Realität“. Judenhass komme aus vielen Richtungen, der Kampf dagegen sei eine Sisyphosaufgabe. „Wer sich nicht an Maschinengewehre vor jüdischen Einrichtungen gewöhnen will, muss das bewältigen.“ M. MÄCKLER