München – Wie kompliziert die Debatte ist, zeigt sich, als auch noch die unterschiedlichen Corona-Impfstoffe ins Spiel kommen. Drei sind derzeit zugelassen, weitere werden folgen, und nicht alle wirken gleich gut. Ob diese Differenzierung eine Rolle spiele bei der Abwägung, Geimpften in Deutschland gewisse Grundrechte früher wieder zu gewähren, wird Alena Buyx gefragt. Kurze Antwort: „Superfrage!“ Und dann: „Das ist ein bisschen wie Pudding an die Wand nageln.“
Die Empfehlung, die der Deutsche Ethikrat gestern vorgestellt hat, trägt den kleinen, aber entscheidenden Zusatz „Ad hoc“. Sie bezieht sich auf die aktuelle Corona-Lage und damit auf die Frage, wie sich das Impfgeschehen momentan darstellt. Weil beides bekanntlich schwierig ist, ist die Haltung des Rates unmissverständlich. Solange nicht erwiesen ist, dass Geimpfte das Virus nicht weiterverbreiten können, und Vakzine nur für einen kleinen Teil der Bevölkerung zugänglich sind, lehnen die Ethiker Sonderregelungen weitgehend ab. Ausnahmen, argumentieren sie, würden die Akzeptanz der Maßnahmen untergraben. Was die Zukunft bringe, sei – Stichwort Pudding – noch schwer zu greifen.
Die Diskussion darüber, wie sich das Impfen auf eine Rückkehr zu so etwas wie einem normalen Leben auswirken könnte, hat rasant Fahrt aufgenommen. Der Besuch von Theatern und Clubs ist ebenso in den Fokus gerückt wie die grundsätzliche Frage, ob Kontaktbeschränkungen weiterhin geboten sind, wenn die Gefahr einer Erkrankung nicht mehr so konkret im Raum steht. Ersteres fällt in den Bereich der Privatwirtschaft, die eine gewisse Handlungsfreiheit hat, sich aber immer den Infektionsmaßnahmen unterordnen muss. Was staatliche Entscheidungen betrifft, ist die Antwort des Ethikrates eindeutig.
Die Datenlage – die im entscheidenden Punkt sehr überschaubar ist – spricht gegen eine Sonderbehandlung. An dieser Stelle kommt Alena Buyx, Vorsitzende des Gremiums, wieder zu den Impfstoffen. Lediglich beim Astrazeneca-Vakzin gibt es seit dieser Woche erste Erkenntnisse, dass die Übertragung des Virus um bis zu 67 Prozent reduziert werden könnte. Buyx selber spricht von 50 Prozent: „Das ist schon toll. Aber die Hälfte ist nur die Hälfte.“ Aus Sicht des Rates fehlt deshalb die entscheidende Grundlage für Sonderregeln. „Wenn wir andere Informationen haben, können wir eine andere Diskussion führen“, sagt Ratsmitglied Sigrid Graumann.
Eine wesentliche Ausnahme allerdings gibt es. Die strengen Kontaktbeschränkungen in Pflege- und Seniorenheimen seien nach einer Impfung „mit Augenmaß“ aufzuheben, empfiehlt das Gremium. Als Beispiele nennt es den Verzicht auf gemeinsame Mahlzeiten und andere Isolationsmaßnahmen, die Depressionen und ein rasches Voranschreiten von Demenz begünstigen könnten. Beim Aufheben dieser Restriktionen gehe es „nicht um Sonderrechte, sondern um die Rücknahme der Benachteiligung“, sagt Graumann.
Eine feine Differenzierung, schon in der Wortwahl, ist dem Rat wichtig. Den Ausdruck Privilegien, der die Debatte gerade mitprägt, empfindet Buyx als „schwierig“ und „verwirrend“, weil es eben nicht um Sonderrechte geht, sondern die Rückkehr zum Normalzustand. Das Thema ist in jeder Hinsicht sensibel. Selbst mit der Frage, ob Sportler für Olympia oder WM bei der Impfung vorgezogen werden sollten, haben sich die Ethiker befasst. Sie sagen Nein. Eine bevorzugte Behandlung sei für Personen gedacht, „die ein besonderes Risiko für uns alle eingehen“. Beispiele sind Ärzte und Pfleger. Bei Athleten sei das nicht der Fall. MARC BEYER