Berlin/München – Impfdebakel, Lockdown und Sorge vor Ansteckung: Die Stimmung der Bundesbürger in der Corona-Pandemie droht nach der Langzeit-Umfrage „Die Ängste der Deutschen“ zu kippen. So hält die Hälfte der Befragten die Politiker für überfordert, noch mehr fürchten um die Wirtschaftslage. Auch die Sorge, schwer zu erkranken oder Infektionen im Familien- und Freundeskreis zu erleben, spiele eine deutlich größere Rolle als 2020, heißt es in der Studie für die R+V-Versicherung. „Ich würde noch nicht die akute große Krise sehen, aber es ist doch eine spürbare Zuspitzung“, sagt Manfred Schmidt, Politologe an der Uni Heidelberg.
Nach einem Jahr Pandemie kippt etwas im Lande, was wohl auch dem Bundeskanzleramt aufgefallen ist. Angela Merkel ist so präsent wie seit Jahren nicht. Regelmäßig tritt sie vor die Presse – jüngst ganz kurzfristig vor die Bundespressekonferenz. Am Dienstag das Interview in der ARD, gestern Abend bei RTL. Dazwischen stellt sich die Kanzlerin in einem Tele-Dialog mit Eltern, die unter Corona leiden – es wird emotional.
Neuigkeiten verkündet sie bei diesen Terminen nicht, es geht mehr darum, ein Signal zu senden. Sie sehe „ein leichtes Licht am Ende des Tunnels“, sagt Merkel gestern im RTL-Interview, der „Scheitelpunkt der zweiten Welle“ sei überschritten. Zugleich warnt sie aber vor „falschen Hoffnungen“, was Lockerungen angeht. Betroffen zeigt sie sich über die Schicksale vieler alter Menschen, die in der Angst lebten, sich ohne eine Impfung mit dem Virus zu infizieren. Sie warnt: „Wir müssen jetzt ganz, ganz vorsichtig sein, damit auf den letzten Metern nicht so viele Menschen noch sterben.“
Seit 30 Jahren läuft die Umfrage „Die Ängste der Deutschen“. Sie gilt Wissenschaftlern wegen ihrer Langzeit-Werte als Seismograf der Befindlichkeiten rund um Politik, Wirtschaft, Familie und Gesundheit. Verschiebungen sind nicht zu übersehen. So sorgten sich die Bürger im Sommer vorwiegend um ihren Wohlstand und blieben beim Thema Ansteckung cool. Nur ein Drittel fürchtete eine Infektion, nun sind es 48 Prozent. 60 Prozent der Befragten sagten, es mache ihnen Angst, wenn immer mehr Menschen die Lockdown-Regeln ignorierten.
„Es spricht einiges dafür, dass diese Mehrheit von 60 Prozent weiter bereit ist, bei den Regeln mitzumachen“, sagt Schmidt, der die Ängste-Umfrage seit rund 20 Jahren analysiert. „Das ist ein großes Kapital in der Corona-Bekämpfung.“ Entscheidend ist aber auch, wie Maßnahmen bei der Bevölkerung ankommen, gerade im Lockdown und in der Impfdebatte. „Da ist etwas gekippt“, urteilt Schmidt. „Die Sache ist enger geworden für die Politik.“
So herrschte im Sommer Zufriedenheit mit dem Pandemie-Management. Nur für 40 Prozent der Befragten wirkten Politiker damals überfordert. Das ist für Deutschland auf dem Langzeit-Index der Umfrage der niedrigste Wert seit der Jahrtausendwende – und ziemlich erstaunlich für ein erstes Pandemie-Jahr. Nun sorgt sich aber 54 Prozent der Interviewten, dass Politiker von ihren Aufgaben überfordert sind – ein Warnsignal.
Für Schmidt war es ein Fehler, die Impfstoffbeschaffung auf EU-Ebene zu verlagern. Nationale Strategien seien besser aufgegangen. Er vermisst das klare Eingestehen von Fehlern und wirft der EU und Berlin „Rumgeeiere“ vor. Das sei „sehr ungewöhnlich und sehr unangebracht“ – und es habe Folgen.
Bei RTL kommt Merkel auch auf das Impfthema zu sprechen – und verteidigt die Entscheidung, die Impfstoffbeschaffung der EU anvertraut zu haben. „Es ist einfach nicht erwiesen, dass, wenn wir mehr bezahlt hätten oder mehr bestellt hätten, wir am Anfang mehr bekommen hätten“, sagt sie. Dass Großbritannien beim Impfen schneller sei, erkläre sich durch die dortige Notzulassung für Vakzine. Die EU habe sich indes für einen „gründlichen Weg“ entschieden. Es klingt ganz ähnlich wie das, was EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen gestern in einem Interview sagt. Bei ihr klingt immerhin ein wenig Selbstkritik an, aber auch die Überzeugung, es grundsätzlich richtig gemacht zu haben.