Wie vom Erdboden verschluckt

von Redaktion

In der Türkei verschwinden immer wieder Menschen spurlos – Angehörige haben die Regierung in Verdacht

Istanbul – Als die Studentin Nursena Kücüközyigit kurz vor Silvester mit ihrem Vater sprach, ahnte sie noch nicht, dass es vorerst das letzte Mal sein wird. Es war der 29. Dezember um 15.40 Uhr. Ihr Vater war am Telefon gut gelaunt, wie die 20-Jährige erzählt. Er wollte am nächsten Tag von Ankara in den Norden nach Kocaeli fahren und dort Silvester mit seinen Kindern und seiner Ex-Frau verbringen. Doch in Kocaeli sei er nie angekommen, sagt seine Tochter. Am 31. Dezember meldete sie ihren Vater als vermisst. Hüseyin Galip Kücüközyigit – Jurist, ehemaliger Regierungsbürokrat und nach dem Putschversuch 2016 entlassen – verschwand.

Kücüközyigit fürchtet, ihr Vater könne im Auftrag der Regierung entführt worden sein, weil es Parallelen zu anderen Verschwundenen gebe. Menschenrechtler und Oppositionspolitiker sprechen von Dutzenden mutmaßlichen Fällen von sogenanntem gewaltsamem Verschwindenlassen seit dem Putschversuch 2016. Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International fordert die Behörden dazu auf, den Fall Kücüközyigit zu untersuchen.

Unter gewaltsamem Verschwindenlassen versteht man laut UN-Definition die Praxis, Menschen im Auftrag oder mit Duldung des Staates ihrer Freiheit zu berauben. Der jeweilige Staat weigert sich demnach, die Freiheitsberaubung anzuerkennen, oder verschleiert das Schicksal der Menschen. Das sei nach internationalem Recht ein Verbrechen, sagt Milena Büyüm von Amnesty International. In den 80er- und 90er- Jahren habe es Hunderte solcher Fälle in der Türkei gegeben, vor allem im kurdischen Südosten des Landes. Lange sei die Praxis kein Thema gewesen, in den letzten Jahren habe es wieder mehrere Verdachtsfälle gegeben, sagt Büyüm. Alleine 2019 seien sechs Menschen mutmaßlich auf diese Weise verschwunden.

Nach Angaben von Amnesty wurde Kücüközyigit wegen Mitgliedschaft in der Gülen-Organisation zu mehr als sechs Jahren Haft verurteilt. Die türkische Regierung macht den in den USA lebenden islamischen Prediger Fethullah Gülen für den gescheiterten Putsch verantwortlich. Seine Bewegung gilt in der Türkei als Terrororganisation (Fetö). Seit 2016 wurden mehr als 100 000 Staatsbedienstete entlassen und zehntausende Menschen wegen mutmaßlicher Gülen-Verbindungen verhaftet. Kücüközyigit hatte zuletzt als Jurist für das Büro des Ministerpräsidenten gearbeitet. Auch er wurde nach dem Putschversuch entlassen. Das Urteil gegen ihn ging in Revision. Er war vor seinem Verschwinden auf freiem Fuß. Oppositionsabgeordnete haben parlamentarische Anfragen zum Verbleib Kücüközyigits gestellt, aber bislang keine Antwort erhalten.

Ömer Faruk Gergerlioglu, Oppositioneller der pro-kurdischen HDP, geht von 30 Fällen von Verschwundenen in der Türkei seit dem Putschversuch aus. Oft handele es sich um ehemalige Staatsbedienstete und es werde nicht ausreichend ermittelt. Manche tauchten nach Monaten wieder auf, etwa in Polizeigewahrsam „als hätte man sie dorthin gebeamt“, sagt Gergerlioglu. Danach würden sie oft wegen Spionage angeklagt. Die meisten schwiegen, andere hätten angegeben, entführt und gefoltert worden zu sein.

Gökhan Türkmen schwieg nicht. Neun Monate lang wussten seine Angehörigen nicht, wo er war, bevor er im November 2019 plötzlich in Polizeigewahrsam wieder auftauchte. Nach Angaben von Human Rights Watch (HRW) wurde er anschließend wegen Spionage und mutmaßlicher Gülen-Verbindungen angeklagt. Türkmen gab demnach im Februar 2020 vor Gericht an, von Sicherheitskräften entführt worden zu sein, die sich selbst als Polizisten ausgaben. Er sei 271 Tage lang mit verbundenen Augen an Händen und Füßen gefesselt in einer Zelle festgehalten worden. Man habe ihn laut Aussage gefoltert und misshandelt und ihm unter anderem Essen, Wasser und Schlaf entzogen. Die Angaben lassen sich nicht unabhängig überprüfen. MIRIJAM SCHMITT

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