Brüssel/Budapest – Viktor Orbán bläst zum Gegenangriff. Eine mögliche Suspendierung seiner Fidesz-Partei aus der christdemokratischen EVP-Fraktion im Europaparlament? Das will sich der ungarische Ministerpräsident nicht gefallen lassen. Deshalb droht er, seine Abgeordneten selbst abzuziehen. Heute dürfte sich zeigen, wie ernst der rechtsnationale Ungar es meint. Dann soll die EVP-Fraktion über eine neue Geschäftsordnung abstimmen, die die Suspendierung und den Ausschluss ganzer Parteien ermöglichen würde.
Es ist der vorläufige Höhepunkt eines Konflikts, der seit Jahren in der Europäischen Volkspartei brodelt. In den Hauptrollen, neben Orbán und Fraktionschef Manfred Weber: Kanzlerin Angela Merkel (CDU), Ministerpräsident Markus Söder (CSU) und seit Kurzem der neue CDU-Vorsitzende Armin Laschet.
Die EVP bildet die größte Fraktion im Europaparlament, stellt etliche EU-Staats- und Regierungschefs und vereint christdemokratische, konservative und auch rechtspopulistische Parteien unter einem Dach. Orbán und seine Fidesz-Partei sind jedoch schon lange eine Belastung für die Parteienfamilie, zu der auch CDU und CSU gehören. Kritiker werfen ihr vor, Demokratie und Rechtsstaat auszuhöhlen.
In Berlin und Brüssel tat man sich dennoch lange schwer mit klarer Kante gegen den Haudrauf aus Budapest. Brücken bauen und im Dialog bleiben – dieses Motto verfolgten vor allem die deutschen Unionsparteien, ohne die in der EVP nicht viel geht. Dabei spielte auch die Sorge eine Rolle, Orbán könnte sich mit Rechtspopulisten wie Matteo Salvini aus Italien, Geert Wilders aus den Niederlanden und Marine Le Pen aus Frankreich zu einer Fraktion zusammenschließen.
Die erste Zuspitzung brachte 2019 eine Plakat-Kampagne der Regierung in Ungarn, die den damaligen EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker und US-Milliardär George Soros als Förderer illegaler Migration diffamierte. Kurz vor der Europawahl rang sich die EVP dazu durch, den Fidesz zu suspendieren – auf Parteiebene. Orbán selbst verkaufte das als selbst gewählten Schritt. Wenig später kündigte der Ungar dem Bayern Manfred Weber, der damals Kommissionschef werden wollte, die Gefolgschaft.
Die Fidesz-Mitgliedschaft in der Partei ruht seitdem, einer endgültigen Entscheidung kam auch die Corona-Pandemie in die Quere. In der Fraktion machen die rund ein Dutzend Fidesz-Abgeordneten bislang jedoch weiter mit – und verteidigen Orbáns Politik, die das Asylrecht einschränkt und die Medienvielfalt beschneidet. Jetzt, zwei Jahre später, könnte mit dieser Rücksicht Schluss sein.
Auslöser ist eine verbale Entgleisung des Fidesz-Abgeordnete Tamas Deutsch, der Weber-Aussagen Ende 2020 in die Nähe der Gestapo rückte. Etliche Fraktionskollegen forderten damals Deutschs Ausschluss – doch Weber konnte sich dazu nicht durchringen. Aus Fraktionskreisen heißt es, Merkel habe Weber damals darum gebeten, weil in Ungarn und anderen EU-Staaten noch die Zustimmung für das Corona-Hilfspaket ausstand. Etliche EVP-Abgeordnete sehen in dieser Entscheidung einen kapitalen Fehler Webers. Er habe es verpasst, in einem konkreten Fall klare Kante zu zeigen, sagen mehrere im vertraulichen Gespräch.
Heute soll die Fraktion über die neue Geschäftsordnung abstimmen. Diese soll ermöglichen, ganze Gruppen aus der Fraktion auszuschließen oder sie zu suspendieren. Dafür bräuchte es mehr als die Hälfte der abgegebenen Stimmen.
Aus Fraktionskreisen heißt es, sobald die neue Geschäftsordnung angenommen sei, dürfte innerhalb weniger Tage der Vorschlag zur Fidesz-Suspendierung folgen. Eine Mehrheit gilt als sicher. Doch lässt Orbán sich das Heft des Handelns nur ungern aus der Hand nehmen. Am Sonntag schrieb er mit dem Briefkopf der ungarischen Regierung an Weber: Falls die Fraktion den Änderungen zustimme, werde seine Partei die Fraktion von sich aus verlassen. Die EVP bliebe zwar stärkste Kraft im Europaparlament, doch fehlten der Fraktion wichtige Stimmen.