London/Brüssel – Nach einer Eskalation im Impfstoff-Streit mit der Europäischen Union hat Großbritannien die derzeitige EU-Vertreterin in London gestern ins Außenministerium einbestellt. Dies gilt im diplomatischen Umgang als scharfe Form des Protests. Hintergrund ist Kritik von EU-Ratspräsident Charles Michel an einer angeblichen Sperre für den Export von Corona-Impfstoffen aus Großbritannien. London nennt dies eine „Falschbehauptung“.
Der britische Premierminister Boris Johnson sagte in London: „Wir haben nicht einmal den Export einer einzigen Covid-19-Impfung blockiert.“ Großbritannien verurteile „Impf-Nationalismus in all seinen Formen“. Alle Verweise auf ein Exportverbot oder Einschränkungen für Impfstoffe seien komplett falsch, hieß es zuvor von einem Regierungssprecher.
Der ehemalige belgische Regierungschef Michel hatte in seinem Newsletter das EU-Programm zur Impfstoffbeschaffung verteidigt. Behauptungen, die EU betreibe Impf-Nationalismus seien schockierend, schrieb Michel. Beispielsweise stamme der größte Teil des in Israel verabreichten Impfstoffs aus Belgien. Die EU habe nie aufgehört zu exportieren. Nach Angaben aus EU-Kreisen haben Pharmahersteller seit dem 1. Februar rund 34 Millionen Dosen Corona-Impfstoff aus der EU an etwa 30 Länder in aller Welt geliefert. Davon seien allein 9 Millionen Dosen nach Großbritannien gegangen und eine Million in die USA.
Ratschef Michel betonte, anders sei das in den USA und Großbritannien. „Das Vereinigte Königreich und die Vereinigten Staaten haben eine regelrechte Sperre verhängt für den Export von Impfstoffen oder Impfstoff-Komponenten, die auf ihrem Gebiet produziert werden“, schrieb Michel. Tatsächlich beklagen EU-Vertreter seit Wochen, dass faktisch nur aus der EU in großem Maßstab Corona-Impfstoff in Drittstaaten exportiert werde. Das ist intern politisch heikel, weil gleichzeitig in der EU Impfstoffmangel herrscht. Der CDU-Europaabgeordnete Peter Liese kritisierte, Großbritannien verfolge mit dem „Oxford-Impfstoff“ von Astrazeneca eine „UK-First“-Politik („Vereinigtes Königreich zuerst“). Astrazeneca begründe seinen großen Rückstand bei Lieferungen an die EU genau damit: „Sie sagen, sie haben einen Uk-First-Vertrag“, sagte Liese. „Erst wenn es genug für Großbritannien gibt, sind sie bereit zu exportieren.“