Corona muss ein Weckruf sein

Problemfall Europa

von Redaktion

GEORG ANASTASIADIS

Es ist nur ein paar Monate her, da verfolgten die Deutschen in den Abendnachrichten erschrocken die verstörenden Bilder der Corona-Pandemie in Trumps Amerika. Über all die Kümmernisse dieser dunklen Zeit tröstete die Bundesbürger ihr fester Glaube hinweg, es zum Glück besser zu können als andere. Umso ernüchternder, dass jetzt der US-Präsident – und es ist nicht Trump! – seine Landsleute vor europäischen Zuständen warnt: „Bitte lassen Sie nicht geschehen, was in Europa passiert, wie Sie es im Fernsehen sehen.“

Es ist eine Art Kulturschock: Die Europäer, und mittendrin die selbstgewissen Deutschen, die so herablassend auf Johnsons Britannien, auf Trumps Amerika und auf die Asiaten blickten, erleben einen Moment brutaler Selbsterkenntnis. Während anderswo auf Teufel komm raus geimpft wird, die Menschen ihren Optimismus wiederfinden und die Wirtschaftskurve nach oben zeigt, steckt Europa im Tunnel fest. Dabei waren unsere Eliten so stolz auf Brüssel und die Überwindung des Nationalstaats. Es stimmt: Die EU ist ein faszinierendes Friedensprojekt, um das uns die Welt beneidet. Aber in Situationen, in dem es auf schnelles, resolutes Handeln ankommt, erweist sich der Nationalstaat – wenn er gut regiert wird (!) – noch immer als unverzichtbarer Akteur. Seine Abschaffung in einer „immer engeren Union“, von der hierzulande viele träumen, darf niemals deutsches Staatsziel werden.

Unsere Hausaufgaben müssen wir schon selber machen, statt sie mitsamt der politischen Verantwortung nach Brüssel zu delegieren. Wenn Deutschland die Viruskatastrophe als Weckruf begreift, wenn es wieder gestaltet statt nur moderiert wird, wenn es seine Sattheit, die Bürokratie und die digitale Fortschrittsfeindlichkeit überwindet, kann es gestärkt aus der Krise hervorgehen – so wie nach Kohl, als erst der Schock der Massenarbeitslosigkeit den nationalen Kraftakt der Agendapolitik ermöglichte.

Georg.Anastasiadis@ovb.net

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