Berlin – Wo ein Ende ist, da ist auch ein Anfang, so in etwa will Robert Habeck wohl verstanden werden. Eine politische Ära gehe dieses Jahr zu Ende, sagt der Grünen-Chef. „Große Veränderungen sind nötig, und große Veränderungen finden statt.“ CDU, CSU und SPD seien „erlahmt und müde“ nach all den Jahren in der Großen Koalition. Das Erscheinungsbild der Republik beschreibt er als „saturiert, müde, wandlungsunlustig, ja mittelmäßig“. Habeck und Co-Parteichefin Annalena Baerbock glauben, das Gegenmittel zu haben: ihren Entwurf für ein grünes Wahlprogramm, 136 Seiten dick.
Darin setzt die Partei auf das, was sie „sozial-ökologische Marktwirtschaft“ nennt: den Aufbau rechtlicher und finanzieller Rahmenbedingungen für ein klimafreundlicheres Wirtschaften, verbunden mit Unterstützung für die möglichen Verlierer des Wandels. Bahnverkehr und Radwege sollen ausgebaut werden und ein europäisches Schnell- und Nachtzugnetz entstehen. Kleine und mittlere Einkommen sollen über einen höheren Grundfreibetrag bei der Einkommenssteuer entlastet, Gutverdiener durch einen höheren Spitzensteuersatz belastet werden. Hartz IV soll einer sanktionslosen Grundsicherung weichen.
Das kostet Geld, und zwar laut Habeck 50 Milliarden Euro extra, was beinahe eine Verdopplung der Investitionen sei. Die Mittel sollen aus mehreren Quellen kommen. Zunächst sollen umwelt- und klimaschädliche Subventionen gestrichen werden, die nach Grünen-Angaben gut 50 Milliarden Euro im Haushalt ausmachen. In einem ersten Schritt sollen zehn Milliarden Euro wegfallen. Steuerbehörden sollen gestärkt, Geldwäsche härter bekämpft werden. Schließlich wollen die Grünen für Investitionen die Schuldenbremse aufweichen. „Wir geben zu wenig Geld für unsere Zukunft aus“, meint Habeck.
Eine Änderung der Schuldenbremse würde allerdings hakelig, weil es für die nötige Grundgesetzänderung eine Zweidrittelmehrheit im Bundestag bräuchte. Auf die Linke könnten die Grünen wohl zählen, CDU, CSU und FDP ginge das allerdings ziemlich gegen den Strich. Das könnte auch zum Problem werden in möglichen Gesprächen über eine Regierungsbildung. Weitere Forderungen mit Potenzial für Gegenwind: der Ruf nach einem Tempolimit von 130 Stundenkilometern auf Autobahnen, Pläne für ein dauerhaftes Bleiberecht für geduldete Migranten nach fünf Jahren, ein reduzierter Mehrwertsteuersatz auch für vegane Milchalternativen oder die Ablehnung des Zwei-Prozent-Ziels der Nato.
Endgültig beschlossen wird das Wahlprogramm erst Mitte Juni beim Bundesparteitag. Die Verfahrenshürden für Änderungsanträge sind bei den diskussionsfreudigen Grünen niedrig, die Zahl der Anträge kann in die Tausende gehen. Doch die Partei ist auch gut organisiert und bereitet solche Termine akribisch vor.
Genau hinschauen werden auch die Aktivisten von Fridays for Future, die am Freitag bundesweit protestierten und das Grünen-Programm schon kritisierten. Die Erhöhung des CO2-Preises sei zu unambitioniert, hieß es. Die Grünen wollen den Preis für das Recht zum Ausstoß klimaschädlicher Gase auf 60 Euro pro Tonne im Jahr 2023 erhöhen statt wie bislang geplant 55 Euro im Jahr 2025.
Zum Ende des Programms erden die Grünen ihre großen Visionen dann doch etwas. „Wir können nicht versprechen, dass nach Corona jedes unserer Projekte noch finanzierbar ist“, heißt es dort. Es wirkt wie ein dickes Fragezeichen hinter der erwünschten neuen Ära.