Israel wählt – zum vierten Mal in zwei Jahren
Ministerpräsident Netanjahu muss trotz erfolgreicher Impfkampagne und außenpolitischer Erfolge bangen
Tel Aviv – Israel hält derzeit einen wenig schmeichelhaften Rekord: In keinem anderen Land waren die Abstände zwischen Wahlen in den letzten 25 Jahren kürzer als hier. Der Präsident des Israel Democracy Institute, Jochanan Plesner, sagt, das Land stecke in der längsten politischen Krise seiner Geschichte.
Heute steht wieder eine Parlamentswahl an, die vierte binnen zwei Jahren. Nötig ist sie, weil das Bündnis zwischen Ministerpräsident Benjamin Netanjahu und seinem Rivalen Benny Gantz nach wenigen Monaten zerbrochen war. Netanjahu und sein rechtskonservativer Likud dürften wieder stärkste Kraft werden. Ob der 71-Jährige erneut Regierungschef werden kann, ist aber ungewiss.
Netanjahu, ist seit 2009 im Amt, viele junge Israelis kennen keinen anderen Ministerpräsidenten. Im Wahlkampf setzt er vor allem auf außenpolitische Erfolge wie die Annäherung an arabische Golfstaaten und auf die rasante Impfkampagne. Netanjahu will, dass die „Vaccination Nation“ (die Impf-Nation) Israel als erster Staat die Corona-Krise hinter sich lässt. Die Chancen stehen gut. Dennoch könnte der Likud Sitze im Parlament verlieren.
Dafür gibt es mehrere Gründe: So läuft gegen Netanjahu ein Prozess. Als erster amtierender Ministerpräsident Israels muss er sich vor Gericht gegen Korruptionsvorwürfe wehren. Seit Sommer gibt es jeden Samstag im ganzen Land Proteste gegen ihn. Letzten Samstag gingen nahe Netanjahus Amtssitz in Jerusalem rund 20 000 Menschen auf die Straßen. Mit einer Rechtskoalition könnte er versuchen, eine Verurteilung zu verhindern.
Viele hadern zudem mit seinem Kurs während der Corona-Krise: Die täglichen Infektionszahlen lagen 2020 über denen in vielen anderen Ländern, die Lockdown-Phasen waren sehr lang, viele verloren ihre Jobs. Auch wurde Netanjahu von säkularen Israelis zu viel Rücksichtnahme auf die Ultraorthodoxen vorgeworfen – strengreligiöse Parteien waren zuletzt sehr wichtige Partner für ihn.
Generell gilt: Das rechte Lager hätte eine klare Mehrheit, doch Netanjahu kann nicht auf dessen uneingeschränkte Unterstützung zählen, weil er zu viele Protagonisten verprellt hat. Das Einende und Trennende fokussiert sich bei dieser Wahl stärker auf die Person Netanjahus als auf die Frage Rechts oder Links.
Umfragen zufolge wurden Gantz und sein Bündnis Blau-Weiß in der Koalition nahezu zerrieben, der Einzug in die Knesset ist unsicher. Damit steht Netanjahu aus dem Mitte-Links-Lager vor allem die Zukunftspartei und deren Vorsitzender Jair Lapid gegenüber. Bedeutend ist auch, dass ihm im rechten Lager starke Rivalen erwachsen sind. Politiker wie Gideon Saar wollen Netanjahu wichtige Stimmen abnehmen. Angekreidet wird ihm von rechts etwa der vorläufige Verzicht auf Annexionen im Westjordanland im Gegenzug für die Annäherung an die Golfstaaten.
Zur Abstimmung aufgerufen sind etwa 6,6 Millionen Menschen, coronabedingt findet sie unter besonderen Umständen statt. Eine Briefwahl gibt es in Israel nicht. S
Etwa ein Dutzend Parteien hat die Chance, den Einzug in die 120 Sitze umfassende Knesset zu schaffen. Die Hürde dafür liegt bei 3,25 Prozent. Geht man nach den letzten Umfragen, dann hätten sowohl Netanjahu als auch das Anti-Netanjahu-Lager eine knappe Mehrheit. Oder es gibt ein Patt – und damit möglicherweise eine weitere Neuwahl im August. SEBASTIAN ENGEL