Depressive leiden massiv unter Lockdown

von Redaktion

Für fast die Hälfte der Betroffenen hat sich die Lage in den letzten Monaten verschärft

München – Bis Mitte April sollen die aktuellen Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie andauern. In den Sozialen Netzwerken äußern viele Menschen die Befürchtung, dass diese Maßnahmen nicht reichen werden und die nächste Verlängerung des Lockdown bereits absehbar sei. Zugleich steigt die Belastung in der Bevölkerung. Viele erlebten die Situation als deutlich belastender als im vergangenen Frühjahr, heißt es in einer aktuellen Sondererhebung des „Deutschland-Barometers Depression“, das die Stiftung Deutsche Depressionshilfe jährlich erstellt. Dafür wurden im Februar über 5000 Menschen zum vergangenen halben Jahr befragt.

71 Prozent der Befragten erklärten den Angaben zufolge, die Situation bedrücke sie. Vor einem Jahr sagten dies 59 Prozent, im Sommer 36 Prozent der Befragten. Fast die Hälfte (46 Prozent) der Befragten bezeichneten ihre Mitmenschen als rücksichtsloser als sonst (Frühjahr: 40 Prozent). Jeder Dritte sprach von Sorgen um seine berufliche Zukunft, ein Viertel von starker familiärer Belastung.

Das Lebensgefühl habe sich durch Unsicherheit und ständiges Abwägen im Alltag verändert, fügt der Vorsitzende der Stiftung, Ulrich Hegerl, hinzu. Auch Ängste seien ein Thema: Hatten im Frühjahr noch 42 Prozent der Befragten erklärt, sich vor einer Infektion mit dem Coronavirus zu fürchten, im Sommer sogar nur 32 Prozent, sagte dies nun fast jeder Zweite.

Unter Menschen mit depressiven Erkrankungen sei das Leid „massiv“, heißt es in der Studie weiter. 8,2 Prozent der Bevölkerung erkranken jedes Jahr an Depressionen; das entspricht 5,3 Millionen Menschen. 44 Prozent der Befragten mit einer diagnostizierten Depression berichteten demnach von einer Verschlechterung, 16 Prozent erlitten einen Rückfall.

Dazu passen die Angaben zu den Faktoren, die Depressionen verstärken können: Fast alle Menschen mit Depressionen (89 Prozent) beklagten fehlende soziale Kontakte; das entspricht einem Anstieg um 15 Prozentpunkte im Vergleich zum ersten Lockdown. Von Bewegungsmangel berichteten 87 Prozent, 64 Prozent von längeren Bettzeiten. Drei Viertel sagten, ihr Tag habe keine richtige Struktur mehr gehabt; Langeweile und Schlafstörungen nahmen zu.

Betroffenen rät Hegerl zu einem Wochenplan mit einer festen Tagesstruktur, inklusive regelmäßiger Bettzeiten von acht bis neun Stunden. Auch sei es sinnvoll, „die Krise – soweit man das kann – als Chance zu betrachten“: ein dickeres Buch lesen, alte Freunde anrufen, „nicht jeden Corona-Podcast jeden Tag hören“, sagt der Psychiater. Wem das nicht helfe, der habe „auf jeden Fall“ einen Anspruch auf Hilfe: „Niemand sollte das Gefühl haben, ich muss jetzt zurückstecken, es geht nur um Corona.“ Indes berichten auch Internisten, dass Menschen nach Herzinfarkten zu spät in die Kliniken kommen. Dies müsse ebenso systematisch in den Blick genommen werden wie Suchterkrankungen und Suizidversuche, mahnt Hegerl. Die Suizidversuche, von denen in der Studie 13 Menschen berichteten, rechneten die Forscher auf die Gesamtbevölkerung hoch: Demnach hätte es seit September vergangenen Jahres etwa 140 000 Suizidversuche allein unter depressiven Personen gegeben. Diese „sehr hohe Zahl“ bereite ihm Sorge, sagt der Experte.

Darüber hinaus fordert der Mediziner ein Expertengremium, das sich mit den Folgen die Beschränkungen befasst. Die zentrale Frage sei, wie viel Leid und Tod durch die Maßnahmen verhindert werde – und wie viel verursacht. PAULA KONERSMANN

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