München – Die steigenden Infektionszahlen bereiten bereits jetzt Sorgen – sowohl im Freistaat als auch bundesweit ist die Sieben-Tage-Inzidenz mittlerweile auf 113 gestiegen. Und in Oberbayern liegt der Wert mit 97 nur ganz knapp unter der Alarmgrenze 100. Das alles wirkt allerdings schon fast marginal, wenn man sich die Prognosen von Berliner Forschern anschaut. Laut einem Modell der Technischen Universität Berlin wird sich die Situation erst mal nicht bessern. Trotz Notbremse, Impfungen und wärmeren Temperaturen. Im Gegenteil: Die Wissenschaftler warnen sogar davor, dass die Inzidenz in den nächsten Wochen auf über 1000 klettern könnte.
Grund dafür ist die Mutation B.1.1.7. Die britische Vari-ante ist deutlich ansteckender als das ursprüngliche Virus – deshalb werde die dritte Welle Deutschland sehr viel härter treffen als die zweite, so die Forscher. Mit dem derzeitigen Impftempo würden Mitte April knapp 15 Prozent der Bevölkerung mindestens eine Erstimpfung haben, sagt Mobilitätsforscher Kai Nagel. Das reiche bei Weitem nicht aus, um die Ausbreitung der Virusvariante aufzuhalten. „Wir gehen also mit schlechteren Voraussetzungen als 2020 in die wärmere Jahreszeit“, sagt Nagel.
Nagel und sein Team simulieren verschiedene Szenarien der Virusausbreitung. Laut den Forschern würden sich die meisten Menschen daheim, bei privaten Treffen, in der Schule und bei der Arbeit anstecken. Ohne zusätzliche extreme Schutzmaßnahmen – wie zum Beispiel das vollständige Verbot von privaten Kontakten – sei die dritte Welle nicht mehr aufzuhalten. Man könne sie aber immerhin mit einer massiven Anzahl an Schnelltests ausbremsen, sagt Nagel.
Die Forscher modellieren für die drei Bereiche – Schule, Arbeit, Freizeit – unterschiedliche Teststrategien. Als Basis für die Modelle hat man das „derzeitige Aktivitätsniveau“ von Personen berechnet. Computer-Simulationen würden zeigen, wann, wo und wie sich Personen bewegen.
Für jeden Bereich wird untersucht, wie stark die Inzidenzen steigen würden, wenn sich die Menschen regelmäßig testen. Das Ergebnis ist bedrückend: Selbst wenn sich alle Schüler und Kindergartenkinder einmal pro Woche testen, würde die Inzidenz bis Ende Mai einen Höhepunkt von über 1500 erreichen – sofern Schulen und Kitas nach den Osterferien für den Präsenzunterricht öffnen. Auch bei drei Tests pro Woche liege der Spitzenwert innerhalb von wenigen Wochen über 1200. Ohne Tests erwarten die Forscher sogar eine Inzidenz von über 2000.
Zusätzliche Tests bei der Arbeit könnten diese Werte deutlich dämpfen: Würden sich neben Schülern auch Arbeitnehmer einmal pro Woche testen, könnte man im Mai mit einer Inzidenz von höchstens 1000 rechnen. Mit drei Tests pro Woche am Arbeitsplatz steige sie immerhin nur noch auf 500. Ähnlich wäre das Ergebnis, wenn in Schulen und bei der Arbeit zwar nur einmal pro Woche getestet wird – aber sich dafür 20 Prozent der Menschen in ihrer Freizeit testen. Und zwar täglich. Ob solche Test-Mengen überhaupt zur Verfügung stehen, ist fraglich. Allein für Berlin bräuchte man für eine umfassende Teststrategie rund 3,4 Millionen Tests pro Woche, sagt Kai Nagel. Die schlimmsten Szenarien der Forscher werden sich in der Praxis voraussichtlich nicht bewahrheiten – allein, da zum Beispiel Schulen in Bayern nach den Osterferien nicht uneingeschränkt öffnen. In Landkreisen mit Inzidenzen zwischen 50 und 100 findet nur Wechselunterricht statt. Steigt der Wert über 100, gibt es nur noch Distanz. unterricht. Ausnahmen gelten nur für wenige Klassen – und auch dann ist ein negativer Test Pflicht.
Auch die Wissenschaftler der TU Berlin meinen: Eine Inzidenz von 2000 wird voraussichtlich nicht eintreten, „da von politischer Seite vorher die Reißleine gezogen würde“. Dennoch sind die Szenarien eine Warnung – und sie könnten zeigen, welchen breiten Einfluss Schnelltests selbst bei lockeren Maßnahmen haben könnten.