Berlin – 120 Porträtfotos, 120 Schicksale, 120 Tote. Die Schwarz-Weiß-Bilder leuchten am Sonntag im Berliner Konzerthaus am Gendarmenmarkt zu den eindringlichen Klängen des Adagio for Strings von Samuel Barber auf und geben dem Sterben in der Corona-Pandemie plötzlich Gesichter. Sie stehen stellvertretend für 79 914 Menschen, die in Deutschland in der Pandemie bereits ihr Leben verloren haben.
Inmitten der Pandemie hat Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier einen staatlichen Gedenkakt angesetzt. „Wir sehen die Wunden, die die Pandemie geschlagen hat. Wir gedenken der Verstorbenen. Und wir fühlen mit den Lebenden, die um sie trauern“, sagt das Staatsoberhaupt in seiner Rede.
Das noch immer wütende Virus erzwingt ein Gedenken im kleinsten Kreis: Fünf Hinterbliebene mit jeweils einer Begleitperson und die Spitzen der fünf Verfassungsorgane sitzen im leer geräumten Konzertsaal – in Hufeisenform und mit weitem Abstand voneinander. Dazu kommen die führenden Vertreter der Kirchen, der Apostolische Nuntius Nikola Eterovic als ranghöchster Vertreter des Diplomatischen Korps und Berlins Regierungschef Michael Müller (SPD) als amtierender Vorsitzender der Ministerpräsidentenkonferenz. Also jener Runde, die maßgeblich die Beschlüsse zur Corona-Pandemiebekämpfung verantwortet und derzeit massiv in der Kritik steht.
Steinmeier weiß um den Unmut in der Bevölkerung wegen der oft als undurchsichtig und nicht nachvollziehbar empfundenen Beschlüsse dieses Gremiums. Er hat in den vergangenen Wochen mehrfach Verständnis für diesen Unmut gezeigt und spricht ihn auch am Sonntag kurz an. „Wo es Fehler und Versäumnisse gab, da müssen und werden wir das aufarbeiten. Aber nicht an diesem Tag. Nicht heute“, sagt er.
Stattdessen spricht der Bundespräsident vom einsamen Tod vieler Menschen in Krankenhäusern und Pflegeheimen, auch jener, die nicht mit dem Virus infiziert waren. Denn die Isolationsmaßnahmen machten da keinen Unterschied. Und Steinmeier spricht von der Verzweiflung der Angehörigen, die „gebangt, gezittert und geweint“ haben. „Viele haben vor verschlossenen Krankenhaustüren gestanden und gefleht, noch einmal zu ihrer Frau oder ihrem Mann gelassen zu werden, zu ihrer Mutter, ihrem Vater, ihrer Tochter, ihrem Sohn.“
Steinmeier erinnert auch an jene Menschen, die zwar nicht am Virus erkrankt sind, aber dennoch in den vergangenen Monaten durch die Pandemie Schaden genommen haben. „An jene, die seelisch krank geworden sind vor Einsamkeit und Enge. An Menschen, die Gewalt erlitten haben. Wir denken an jene, die in wirtschaftliche Not geraten sind und um ihre Existenz bangen.“ Und Steinmeier dankt ausdrücklich Ärztinnen und Ärzten, Pflegerinnen und Pflegern, die „oft bis zur völligen Erschöpfung und nicht selten darüber hinaus“ um jedes Menschenleben kämpfen.
Das Gedenken fällt in eine unsichere Zeit. Die Infektionszahlen steigen, die Intensivstationen der Krankenhäuser füllen sich. Trotzdem verbreitet Steinmeier an diesem Tag auch Zuversicht. „Wir werden von dieser Pandemiezeit gezeichnet sein, aber auch an ihr wachsen“, sagt er. „Wir werden die Pandemie hinter uns lassen! Wir werden aufatmen und wieder frei leben“, betont der Bundespräsident.
ULRICH STEINKOHL